Eisblumen

Verschlafen erwachte Yume. Es war kein
Geräusch, das sie geweckt hatte, es war die vollkommene Stille. Kein einziger Ton war zu hören. Kein Auto fuhr auf der Straße, keine Menschen liefen durch die Gassen. Es regnete nicht, es schneite
nicht. Ihr Eltern schliefen, doch sie bewegten sich nicht, alles schien wie eingefroren.
Yume fühlte sich schuldig, die Stille durchbrochen zu haben, als sie sich langsam aufrichtete und die Decke von ihrem Körper streifte. Müde rieb sie sich die Augen und blinzelte in Richtung Fenster.
Dort schien die Sonne durch die kleinen Schlitze des Rollladens in ihr Zimmer und tauchte es in ein warmes Licht. Sie stand auf und suchte mit ihren Füßen den Boden nach ihren Hausschuhen ab. Endlich
fand sie sie und steckte ihre Füße hinein. Sie waren aus Wolle und wärmten ihre kalten Füße. Sie gähnte ausgiebig und lief auf das Fenster zu, um den Rollladen hoch zu ziehen. Vorsichtig griff sie an
die Schnur und zog an ihr, so dass sich der Rollladen langsam in Bewegung setzte. Sie zuckte zusammen, obwohl sie wusste, dass das Geräusche von sich geben würde.
Sie wollte ihre Eltern nicht wecken, doch im Dunklen rum zu irren war auch keine Option.
Yume kniff die Augen zusammen, als die ersten Sonnenstrahlen voll in ihr Zimmer scheinen konnten. Heute würde ein wundervoller Tag werden. Während der Rollladen hoch fuhr, blickte sie aus dem Fenster
und beobachtete eine graue Katze, die eine Mauer herauf sprang. Auch sie hatte das Schweigen unterbrochen. Yume war irgendwie froh, dass sie nicht das einzige Lebewesen war, das im Moment nicht
schläft.
Als der Rollladen ganz oben war und das Sonnenlicht das Zimmer mit Wärme flutete, drehte sie sich leise um und schlich zu ihrer Uhr. Es war noch relativ früh. Heute war keine Schule, Samstag war
Ruhetag. Heute konnte sie machen was sie wollte, und es war erst Acht Uhr. Den ganzen Tag konnte sie Spaß haben. Würde sie vielleicht ihre Freundin anrufen, um mit ihr zu spielen? Yume liebte es,
über die Zukunft, ob fern oder nah, nach zu denken. Und so dachte sie auch oft an ihre -meistens ferne- Zukunft.
Was würde sie erwarten? Sie war noch jung und hatte viel vor sich.
Manchmal kam sich Yume etwas komisch vor. Sie philosophierte über den Sinn des Lebens, die Zukunft und lauter solcher nicht materiellen Dinge. Andere Kinder in ihrem Alter spielten mit Puppen, oder
mit Spielzeugautos, sie nicht.
Oft sagte sie Freunden ab, wenn sie eingeladen wurde, weil sie etwas vorhatte. Wenn dem so war, setzte sie sich zu Hause auf ihr Bett, nahm ein kleines schwarzes Heft mit einem grauen Kreuz darauf in
die Hand und begann, etwas hinein zu schreiben.
Es war kein Tagebuch oder sonstige, -unwichtige- Dinge. Sie schrieb Gedichte.
Sie schämte sich dafür, sie kam sich zu jung dafür vor. Aber etwas sagte ihr, dass genau das ihre Bestimmung sein würde. Ihr Schicksal…
Oft dachte sie darüber nach, ob es Schicksal wirklich geben kann? Und ob man es manipulieren könnte?
All diese Aktivitäten passten nicht in den Alltag einer siebenjährigen. Das machte sie -ihrer Ansicht nach- zu etwas Besonderem. Doch was wusste sie schon? Sie selbst hielt sich für Schwach. Sie
hatte nicht mal genug Mut, ihrer Mutter eines dieser Gedichte zu zeigen. Dabei waren sie wirklich gut.
Und auch heute, zu dieser ruhigen Zeit, würde sie sich wieder auf ihr Bett setzten und schreiben.
Genau das tat sie jetzt auch. Seufzend über sich selbst, schlich sie auf ihr Bett zu und griff vorsichtig unter ihr Kissen. Nach ein paar Sekunden zog sie ihr schwarz-graues Büchlein und einen Stift
heraus.
Auf der Titelseite war ein graues Kreuz abgebildet unter dem in kursiver, schnörkeliger Schrift stand: Sleep and Die.
Was hatte das zu bedeuten?
Alles bedeckt mit weißem Sand
ein heller Schimmer in der Nacht.
Wie unsre‘ bleiche Seele,
die dunkle Welt bewacht.
Wesen der Nacht,
zu schön für den Tag.
Wenn der Mond erscheint,
erwachen wir aus dem Sarg.
Mit traurigem Blick las sie diese Zeilen und eine Träne kullerte ihre Wange herab. Wie in Zeitlupe fiel sie langsam auf den Boden zu. Mit einem leisen Platschen prallte sie auf und versank in der
ewigen Tiefe.
Yume hob ihren linken Arm und wischte sich vorsichtig ein paar weitere Tränen aus den Augen. Ihr Gesicht war bleich und ihre Augen rot. Wieder dachte sie an ihr Schicksal. Hatte sie überhaupt ein
Schicksal? Und wenn ja, wie lautet es? So viele Fragen traten auf, doch Antworten gab es keine.
In solchen Momenten fühlte sich das kleine Mädchen immer so allein. Sie schniefte und blätterte eine Seite weiter.
Die nächste Seite war leer, nur ein paar schwarze, dünne Linien überzogen sie. Hier würde sie einige neue Zeilen schreiben, die sie noch trauriger stimmen.
Gedicht über Trauriges konnte sie immer gut schreiben, da sie dieses Gefühl wohl selbst nachempfand. Und das Tag für Tag. Eben war sie noch froh, der Tag war noch nicht richtig wach, sie hatte ihn
noch vor sich und konnte machen was sie wollte. Doch die Gedanken, die Fragen und zu guter Letzt auch ihre Gedichte, sie zogen ihre Stimmung herunter. Und das ganz gewollt. Oft dachte sie, sie
wollte, dass es ihr schlecht ging. Aber so war es nicht.
Verstohlen blickte sie sich um. Nichts bewegte sich in ihrem Zimmer, alles war ruhig. Wieder gähnte Yume. Ob sie noch müde war?
Es war Vollmond, aber an solche Art von Aberglauben glaubte sie nicht. Sie blätterte zurück und las das Gedicht noch einmal durch.
Nacht, Mond. Diese Wörter lösten etwas in ihr aus. Yume wusste nicht genau was, doch in ihrem Kopf arbeitete etwas, wenn sie diese Wörter las. Immer und immer wieder, blickte sie auf die paar Zeilen,
sie versuchte krampfhaft etwas aus diesem Arbeiten zu machen. Doch nichts geschah.
Keine Bilder, keine Geräusche, nichts regte sich, alles war noch wie vorher. Verzweifelt griff sie unter ihre Bettdecke und zog einen kleinen, braunen Stoffteddy heraus. Traurig schaute sie ihn an
und streichelte ihm über dem Kopf. So musste es sich anfühlen – allein sein.
Behutsam legte sie ihre Hand wieder auf ihre Beine, lehnte ihren Kopf zu dem Teddy und hauchte: “Kannst du mir helfen?“
Keine Antwort. Wieso sollte auch ein Stofftier auf ihre Frage antworten? Manchmal lachte sie innerlich über sich selbst.
Ein Schauer lief ihr den Rücken herunter. Krampfhaft hielt Yume den Teddy fest. Was war das? Ihr wurde schwindelig, also legte sie sich ab. Sie nahm eine Hand an die Stirn. Große Schmerzen
durchfuhren sie, beinahe hätte sie geschrien. Auf einmal schossen ihr Bilder durch den Kopf.
Sie sah sich in ihrer Küche, wie sie sich mit einer anderen Frau unterhielt, doch die Bilder wechselten zu schnell, um etwas Genaues erkennen zu können.
Als Nächstes sah sie ein blaues Gesicht, es lächelte freundlich, doch im nächsten Moment war es schon wieder weg.
Yume dachte schon sie sei verrückt, doch nun hörte es endlich auf, Bilder zu regnen und das Mädchen lies erschöpft den Kopf hängen. Was hatte sie dort gesehen? Sie versuchte sich zu
erinnern.
Eine blauhäutige Frau, sie in der Küche… Mehr fiel ihr nicht ein. Das ging alles so schnell.
Verwirrt versuchte sie zu erraten, was das mit ihr zu tun haben könnte. Sie in der Küche…
„Stimmt!“, hörte sie sich zischen, bevor sie es zurückhalten konnte. Gestern Nacht ist sie aufgestanden und in die Küche gegangen.
Yume kam sie vor wie ein Detektiv, doch diese Bilder hatten ihre Neugier geweckt. Mittlerweile war ihr nicht mehr so schwindelig, also richtete sie sich vorsichtig auf. Langsam schob sie ihre Decke
von den Beinen und streckte sich.
Ihr Zimmer wurde von einigen Sonnenstrahlen geflutet und gewärmt. Sie lies die ganze Wärme auf sich zu kommen und wirken. Den Kopf zur Sonne gestreckt, verweilte sie einen Moment. Dann stand sie auf
und legte ihren Stoffteddy auf das Bett. Behutsam schlich sie auf die Tür zu. Ihre Finderspitzen berührten den goldenen Türgriff und sie drückte ihn leise herunter. Die Tür öffnete sich und Licht aus
dem Flur strahlte ihr entgegen. Eine stille, nahezu unheimliche Atmosphäre herrschte in dem Haus. Alles schlief, nur sie geisterte durch die Zimmer, auf der Suche nach Antworten. Ihre Eltern
schliefen also noch. Vielleicht war das gar nicht schlecht, dann würden sie sie wenigstens nicht stören.
Langsam schlich sie auf die Treppe zu, die sie hinunter in das Wohnzimmer führen würde. Sie streckte eine Hand nach dem Geländer aus, während sie einen Fuß auf die erste Stufe setzte. Behutsam lief
sie die Treppe weiter runter. Yume wollte ihre Eltern keinesfalls wecken.
Unten angekommen blickte sich das kleine Mädchen um. Alles war so wie immer, nichts erschien ihr ungewöhnlich. Wieso auch, sie hatte sich ja nur ein Glas Wasser geholt.
„Moment!“, dachte sie. Jetzt fiel ihr alles wieder ein. Gestern war ihr ein Glas herunter gefallen, deswegen war ihr Vater aufgestanden. Ob er die Scherben gesehen hatte?
Yume lief auf die Küchentür zu, um nach zu sehen. Vorsichtig lugte sie hinter dem Türrahmen hervor. Nichts!
Dort waren keine Scherben, nichts. Alles war wie vorher, alles stand da wo es hingehört und nichts war kaputt. Das verstand sie nicht. Konnte es sein, dass ihr Vater das war? Leise schlich sie in dem
Türrahmen herum und stand jetzt voll in der Küche. Sie erblickte auf dem Küchentisch ein Glas. Es war ein normales Glas, keinerlei Bilder oder anderes darauf. Halb gefüllt mit Wasser stand es auf dem
Tisch und wartete darauf getrunken zu werden.
Yume trat näher heran, der entdeckte sie einen Fetzten Papier unter dem Glas. Behutsam schob sie das Glas beiseite und griff nach dem Zettel. Etwas war mit blauer Tinte auf ihm geschrieben.
Nichts zu danken, Yume.
Wir sehen uns bald wieder!
Deine Lunea!
Lunea? Verwirrt fragte Yume sich, wer das sein könnte.
