K A P I T E L _ XIII

Opfer «

Es gibt nur eine die es sein kann...
Doch weiß sie es?

— Selbstverfasst



Schon seit drei Tagen hatte sie weder etwas von Lunea, geschweige denn von Erýn gehört, Yume war nun vollkommen allein. Es war ein seltsames Gefühl, sie spürte eine starke innere Leere und oft vermisste sie die Beiden, vor allem die Ariska. Sie hatten beide schon viel für sie getan. Die Vampirwunde zum Beispiel: Erýn hatte ihr ein gutes Mittel verschrieben – sie hatte es die Tage noch ein paar Mal auf den Biss aufgetragen und er war abgeschwollen, außerdem fühlte sie sich jetzt schon viel frischer und kräftiger; sie glaubte, dass die Gefahr wohl vorüber sei. Trotz allem hatte sie durch diese Attacke von Caída erheblichen Schaden genommen und war offenbar etwa sieben Jahre gealtert, in Menschenjahren wäre sie jetzt also sechzehn. Aber das interessierte hier niemanden; das war eine kalte Welt in der solche Fakten sinnlos waren.
Wie schon so oft seit Erýns Verschwinden saß Yume auf der Kante des Hauses im Baum des Todes und baumelte mit ihren Füßen auf und ab. Dabei dachte sie immer lange nach, über diese Situation, über Lunea, über diesen anderen Ariska – wie hieß er doch? – … Wryu und über Caída.
„Ich habe getötet“, flüsterte sie kaum vernehmbar. Eine Träne kullerte ihre linke Wange herunter und fiel von ihrem Gesicht herab, wie ein Tautropfen an einer welken Blume. Er fiel und fiel, bis er in der Schwärze der Nacht verschwunden war. Sie weinte einfach weiter, es kümmerte sie nicht, was man von ihr dachte. Es war doch eh niemand hier, der sie sehen konnte, oder sie kannte. Was würde das denn auch ändern? Sie war allein, so allein wie nie zuvor.


„General, die Feinde sind abgezogen, wir können sie vom Turm aus nicht mehr sehen.“
„Gut“, antwortete Wryu knapp. Zu seinen Füßen kauerte Xeria, sein Körper war mit Wunden übersät. Der General der Gruppe sah auf den Werwolf hinab und runzelte die Stirn.
„Geh mit den anderen verletzen zu Simna, sie wird euch heilen“, meinte er trocken und wollte seinem Untergegeben schon wieder den Rücken zukehren, als dieser stehenblieb und seinen Anführer durch dringlich ansah. Er schien Wryu mit dem Blick zu durchlöchern, wenn auch offenbar auf keine schlechte, negative Weise. Es schien fast etwas Freundliches zu haben.
„Was gibt es denn noch, Xeria?“, fragte Wryu kalt und starrte ihn weiterhin gefühlslos an.
„Der Befehl war es, sie zu verflogen, sobald die Sonne untergegangen ist“, meinte Xeria und nickte mit dem Kopf auf eine rote Kugel am Horizont, die nur noch zur Hälfte zu sehen war, bevor er fortfuhr, „Es ist soweit.“
Wryu schüttelte bedacht den Kopf und holte Luft, bis ihm der Werwolf darin hinderte zu reden. „Sprich nicht. Sie sind unsere Feinde und gehören getötet“, fauchte Xeria verachtend, „Deinen Kriegern kannst du vielleicht etwas befehlen, ich hingegen bin ein freies Wesen und darf tun und lassen was ich möchte!“ Würdevoll erhob sich das große Tier und wollte sich gerade umdrehen, als er eine Hand auf seiner rechten Schulter spürte.
„Geh nicht!“, hauchte Wryu. Der Werwolf wartete kurz, doch dann schüttelte er nur den Kopf und lief weiter.

In dieser Nacht starb er also?... Unverschämt, er ist selbst daran schuld. Er war ein guter Kämpfer, doch er ist wohl von uns gegangen. Aber warum nur? Was haben wir ihnen allen getan? Was haben wir dir getan, Arashi? Oh großer Arashi, warum lässt du diese Folter zu? Was leitet dich, nichts dagegen zu tun? Wir haben immer auf dich gezählt, oh Herr, aber du hast uns enttäuscht…

Die Schlacht schien geschlagen, bevor sie begonnen hatte. Etwa zwei dutzend Feinde, darunter vier Schatten, bauten sich vor dem verhältnismäßig kleinem Werwolf auf, der ganz offensichtlich den Tod suchte. Doch wollte er nur seine Herr stolz machen und seine Befehle blindlings befolgen; niemand außer er tat das. Er war etwas besonderes, seiner Ansicht nach, jedoch fehlte ihm in dieser Situation der Mut. Seine Gegner rannten mit wildem Geschrei und erhobenen Waffen auf ihn zu, sowohl Xeria als auch die Schatten waren sich des Ausganges dieses Kampfes bereits bewusst – es hatte keinen Sinn sich gegen diese Macht aufzulehnen. Sein Schicksal war wohl besiegelt und es gab kein Zurück mehr.
Das erste Schwer zischte mit einem hellen Ton auf seinen Rücken herab und ehe Xeria sich abwenden konnte erreichte ihn die Klinge. Nie da gewesen Schmerzen durchfuhren sein Leib, als die Waffe des Schattens in sein Fleisch eindrang und eine tiefe Wunde schlug, die nur nach wenigen Sekunden wie wild zu bluten begann. Sein erster Reflex war Schreien, doch das ersparte er sich… Er ließ Schmach und Schmerz über sich ergehen, so lange, bis er sich nicht mehr rühren konnte. Er wollte doch nur helfen.
Bald waren seine Gegner abgezogen, hämisch lachend hatten sie ihn hier alleine zurück gelassen. Blutend aus allen möglichen Wunden und zu schwach um auch nur eine Pfote aufzurichten. Sein Atem ging langsam und schwer und er hatte Mühe damit, seine Augenlied oben zu halten. Er sah dem Tod ins Auge, eine Melodie des Abschiedes erklang in seinen Ohren und der stechende Schmerz schien sich zu verstärken, gar zu verdoppeln. Es war aus und vorbei.

„Geht es dir gut?“, erklang eine seltsam fremde Stimme an seine Ohren. Tausendfach hallte sie wieder und schallte durch seinen momentan so leeren Kopf, er hatte keine Erinnerung daran.
„Wo bin ich?“, fragte er monoton und versuche die Augenlieder hochzuziehen – er war zu schwach. Ihm fehlte die Kraft dazu, zu allem. Nicht mal bewegen konnte er sich; leblos lagen seine Vorderläufer wohl vor ihm und taten es seinem gesamten Körper gleich, indem sie nicht auch nur den kleinsten Ansatz an Bewegung zeigten und bei jedem erneuten Versuch unglaubliche Schmerzen in jeder Gegend seiner Lebenshülle verursachten.
„Unwichtig. Geht es dir gut?“, wiederholte diese Stimme ihre Frage, dieses mal etwas schärfer. Anscheinend wollte das Lebewesen jetzt eine Antwort. Jetzt.
Xeria brummte nur kurz und wand sich erneut mit aller Kraft gegen seine Unbeweglichkeit. Es fühlte sich fast so an, als wäre sein Körper nunmehr in einer Hülle aus Eisen gefangen; unmöglich zu zerbrechen. Erneut brummte er sonor, doch war es mehr ein wütendes Schnaufen, und schaffte es letztendlich doch seine Augenlieder für einen Moment lang offen zu behalten. Allein dies kostete ihn schon enorm viel Kraft und nur nach wenigen Sekunden waren seine Augen wieder verschlossen. Nur schemenhaft hatte er den Mann erkennen können, der leicht über ihn gebeugt war und offenbar mit ihm geredet hatte. Ihre Umgebung schien eine Art Höhle zu sein, sicher war sich der Werwolf jedoch nicht.
„Wo bin ich?“, fragte Xeria erneut, dieses Mal betont langsam; mit einem scharfen Unterton. Einen Moment war es ruhig, der Mann schien zu zögern, doch dann kam schnell und leise eine Antwort.
„In Sicherheit. Warum hast du das getan?“
„Was soll das!?“, knurrte er, nun etwas aggressiver, „Ich will jetzt augenblicklich wissen wo ich bin, sonst hat das ein Nachspiel!“ Ein Zischen entrang seiner Kehle und mit aller Macht versuchte er sich aufzurichten. Eine kurze Bewegung schien um seinen Brustkorb herum zu sehen zu sein, doch dann sackte er ebenso schnell wie er es versucht hatte, wieder in sich zusammen, die Augen weiterhin verschlossen.
„Gib Antwort, Wolfsgetier. Was hast du dir dabei gedacht einfach in den Feind reinzustürmen, ohne Taktik und… Erzähl!“, meinte der Mann weiterhin so ruhig wie zuvor. Er hatte wohl eine große Geduldsspanne, doch war sich Xeria nicht sicher, wie lange diese noch halten würde. Wer weiß, wie der Fremde reagieren würde, wenn seine Geduld platzt.
„Ich habe keine Erinnerungen. Was ist geschehen?“, knurrte Xeria leise. Schämte er sich?
„Du hast dich dummer Weise gegen eine unzählbare Menge gestellt und wurdest natürlich fast eigenhändig besiegt. Sie haben deinen Körper zerrupft und als auf dich eingetreten und geschlagen, obwohl du schon zu Boden gegangen bist und höchstwahrscheinlich auch ohnmächtig warst. Sie haben dich so lange fertig gemacht, bis sie daran offenbar den Spaß verloren. Ich habe das alles beobachtet und habe ich darauf so schnell wie nur eben möglich hierher gebracht.“
„Wo ist ‚hier her‘?“, brachte Xeria stoßweise hervor, er schnappte nach Luft und keuchte erschöpft. Tatsächlich holten ihn nun die ersten Erinnerungen ein und er fühlte sich noch viel gedemütigter als zuvor in seinem ganzen Leben.
„Mein Zuhause. Eine abgelegene Höhle im Süden“, reagierte der Mann etwas später. Noch immer konnte der Werwolf seine Augen nicht richtig öffnen und so blieb es ihm unerlaubt einen Blick auf seinen Retter zu werfen; zu erfahren wer ihn vor dem sicheren Tod bewahrt hatte. Doch in diesem Moment drängte ein anderer Gedanke in den Vordergrund, der ihn vor Wut kochen ließ.
„Dann heißt das… du bist einen von ihnen!“, brüllte Xeria nun mit aller Kraft und sprang augenblicklich auf. Mit einem Mal war sein Körper befreit und er fühlte die Macht die sich nun durch alle seine Gliedmaßen ausbreitete und in jeder Faser seines Körpers, wie ein Bote eine Nachricht, den brachialen Willen hinterließ, diesen Mann das Genick zu brechen. Mit einem Ruck zog der Werwolf seine Augenlieder hoch und er konnte nun sofort klar und deutlich erkennen, wer dort vor ihm stand.
Der Mann hatte eine normal menschliche Hautfarbe und trug eine braune Jacke auf seiner nackten Oberfläche. Seine Beine und sein Rumpf wurden größtenteils von einer Art Hose bedeckt, die schlammig und verdreckt an seinem Körper klebte. Sein Gesicht zeichnete eine Narbe in Form einer Sichel, welche sich mit der Öffnung zum Auge, quer auf der linken Seite seiner Stirn befand. Wie eine eingebrannte Erinnerung spürte er wohl diese Narbe bei jedem seiner Atemzüge. Auf seinem Kopf waren keine Haare vorhanden, dafür aber ein seltsam glühender Halbmond, der seltsam hellblau aufleuchtete. Seine kristallfarbenen Augen glühten argwöhnisch und unter seinen Lippen konnte Xeria klar und deutlich die Form von größeren Zähnen erkennen, die wie Pfeiler aus der Reihe hinaus ragten. An den Füßen trug er sowas wie Schuhe, jedoch konnte der Werwolf eine genaue Bezeichnung nicht wirklich festlegen, da sein Schuhwerk zerfetzt und dreckig war. Was jedoch – neben dem Halbmond auf seinem Kopf – Xerias meiste Aufmerksamkeit auf sich zog, war der silbern schimmernde Dolch zu seiner linken. Seine Schneide war zu beiden Seiten ausgerichtet und der Griff war zum Ende hin mit einem hölzernen Drachenkopf verziert.
„Ich… ich…“, stammelte der Werwolf plötzlich. All sein Mut war ihm mit einem Mal wieder genommen.
„Was ist los, oh Jäger? Hieß es nicht, du seist der brutalste und gemeinste Kopfgeldjäger Fuykais? Pah. Ich habe mich auf einen ordentlichen Kampf mit dir gefreut, aber du bist ein Haufen Elend! Du bist es nicht wert auf dieser Welt zu existieren, Xeria! Deine Freiheit und dein Leben wollte ich dir schenken doch du warst zu schwach um auch nur eines der beiden anzunehmen. Du hast kein Leben verdient!“, brüllte der Mann auf einmal ziemlich wütend und mit einer flüssigen Bewegung stach er den Dolch in seiner linken Hand in Xerias rechte Schulter. Schmerzerfüllt heulte der Werwolf auf und versuchte sich zu wehren, doch ihm blieb keine andere Möglichkeit, als regungslos zu verharren und die Schmerzen auszuhalten; sein Körper hatte erneut eine Schockstarre angenommen. Unfähig sich zu rühren sah der Werwolf zum zweiten Mal in kürzester Zeit seinem Tod entgegen.

Was? Er lebt!? Nur die Ruhe bewahren, wir müssen nun stark sein. Die Dunkelheit darf uns nicht verschlucken, es ist unsere letzte Hoffnung. Doch er ist bei… nein, das darf nicht sein! Holt ihn zurück! Holt ihn sofort zurück! Wenn er noch am Leben ist, dann wollte Arashi es so. Er darf nun nicht dem Tod zu Füßen fallen. Alleine kann er es nicht schaffen, so ziehet los und helfet ihm! Dies ist eine der wichtigsten Aufgaben die ihr je bekommen habt. Der General darf ihn nicht töten. Rettet sein Leben! Rettet Xeria…

Melanchonie begleitete ihren flehenden Blick in den Himmel, der ihr jedoch keine Antwort geben wollte, auf die Frage die sie sich schon so lange stellte. Sie blickte immer inniger in die unendlichen Weiten des Firmamentes am Himmel in dieser Nacht und als würde sie damit etwas erreichen können, faltete sie die Hände zusammen und schien ein stilles Gebet zu sprechen.
Warum war sie hier? Was hatte das alles zu bedeuteten? Wo war Lunea? Was war mit Erýn passiert? Wieso das Alles? Womit hatte sie das verdient?
Eine Träne quoll aus ihrem linken Auge hervor und tropfte von ihrer Wange in die Tiefen des Baums des Todes hinab, als just in diesem Moment ein grelles Licht am Himmel erschien. Nur für den Bruchteil einer Sekunde schoss der Lichtstreif in der Dunkelheit herab, bis er schließlich nach einem Wimpernschlag wieder verschwunden war. Doch dem nicht genug, wiederholte sich dies nun immer wieder.
„Sternschnuppenregen“, flüsterte eine Stimme vielsagend und vom Schreck getroffen, fuhr Yume ängstlich herum, sodass sie ihm direkt in die Augen sah, „Er ist wunderschön nicht?“