Das letzte Aufgebot «
Leichen von Völkern
in Menschenleibern
grausam verzaubert
fahren langsam
ohne Verkündung
Ein neuer Bote einst gesendet. Ich bin zuversichtlich, dass er seine Arbeit ordentlich verrichten wird, doch weiß man nie, was passieren kann. Bei Lunea und auch Erýn hat man es schließlich
gesehen. Ich hoffe, dass der Tod sie ereilen wird; nicht anders verdient haben es diese Verräter.
„Wer… wer bist du!?“, hauchte Yume ängstlich; sie hatte sich umgedreht und war sofort einen Schritt zurück geschnellt. Nun stand sie genau an der Kante des Baumhauses, nur wenige Zentimeter trennten
sie von der Schwärze, in der irgendwo weit, weit unten ein Untergrund sein sollte.
„Hm?“, brummte das Wesen vor ihr fragend, „Du weißt es nicht mehr?“ Stille. Verwundert sah sie ihn an; offenbar wusste Yume nicht wovon er redete. „Seltsam. Nun gut…“, murmelte das Wesen. Vorsichtig
schritt er einen Satz nach Vorne, sodass das Licht der Sternschnuppen am Firmament des Nachthimmels nun sein Haupt beleuchtete. Ihr zeigte sich ein stämmiger Oberkörper von menschlicher Hautfarbe,
der nur von einer braunen Lederweste bedeckt wurde. An den Beinen trug er eine Art kurze Stoffhose, seine Füße waren nackt. Sein Kopf war bedeckt von dunkelblonden, längeren Haaren, die nach links
fallend auf seiner Stirn lagen und seine Ohren fast gänzlich bedeckten. Nur schemenhaft konnte das Mädchen die spitzen Züge seiner Lauscher erkennen, die katzenartig von seinem Kopf abstanden. Sein
Mund war geprägt von zwei größeren Eckzähnen, dessen Form sie ein Wenig an Vampire erinnerte; sofort schossen ihr Bilder von Caída in den Kopf und ein Schauder lief ihr über den Rücken.
„Du bist doch kein Vampir… Oder?“, stammelte Yume verunsichert und blickte ihren Gegenüber fragend an. Dieser erwiderte ihren Blick standhaft; seine brau-grünen Augen waren offenbar an ihrem
zierlichen Körper hängen geblieben, doch schien er sie genauso mit seinem Blick mitten in ihren Seelenspiegeln zu treffen. Sein Blick strahlte Zuneigung und Unschuld aus; augenblicklich verschwanden
ihre Vermutungen über seine Art, ebenso schnell wie sie aufgetreten waren.
„Nein“, kicherte der Junge – er schien etwa in Yumes Alter zu sein, höchstens ein Jahr älter; dank Caídas Vampirbiss also etwa 16 –, „Ich bin ein Elf.“
Das war doch wirklich unglaublich; Yume kam sich vor wie im Zirkus. Alle paar Momente lernte sie neue Arten von Lebewesen kennen und nach jeder Ohnmacht neue Leute. Unglaublich, wie war sie hier nur
hineingeraten und warum? Gut, über diese Fragen war sie jedoch schon lange hinweg, sie hatte es aufgegeben eine Antwort zu finden. Nein, in diesem Moment beherrschte eher die Angst ihren Körper, die
Angst vor diesem Jungen. Wer war er? Wie kam er hier her? Was meinte er mit „du weißt es nicht mehr“? Zu viele Fragen stellten sie; Fragen, die sicherlich keine wundervollen Antworten hatten – daher
ihre Furcht vor dem Elf; ja die Angst kam wieder…
„Wie heißt du?“, fragte Yume; sie versuchte stark zu wirken, doch schien es ihr nicht so zu gelingen, wie es sollte.
„Inku – Ryo Inku“, verkündete er; ihr kam es so vor, als würde ein starker Stolz in seiner grollenden Stimme liegen. „Yume, richtig?“, antwortete Ryo mit einer Frage und nickte ihr vielsagend
zu.
„Exakt“, brachte sie heraus. Die Furcht vor ihm, wich der Nervosität. Wieso war sie nervös? Dafür gab es einfach keinen Grund? Was war denn nur mit ihr los? Sie hatte Angst einen Fehler zu machen,
sich lächerlich zu machen; sie hatte Angst vor peinlichen Situationen… Wieso denn das? Es ging ihr doch sonst nicht so?
„Ach ja… Yume… Lange ist es her, was?“, fragte er und sah sie erneut durchdringlich an.
„Tut mir Leid… ich weiß nicht wovon sie reden, Inku…“, versuchte sie sich betont höflich auszudrücken, woher sollte sie auch wissen, dass man sich in Fuykai immer duzt, solange es sich nicht um einen
Vorgesetzten handelt, welche man mit Grin ansprach.
„Welch Ironie…“, murmelte Ryo leise.
„Was löst er in dir aus?“, flüsterte er dann nach einem Moment, gänzlich unterwartet und noch dazu vollkommen aus dem Kontext gegriffen.
„Was?“
„Der Sternschnuppenregen“, meinte der Elf wissen und deutete mit seinem Finger auf die Sternschnuppen die am Firmament der Nacht ihren Weg gen Horizont suchten, wo sie einfach verschwanden.
„Wunderschön…“, hauchte Yume. Und sie küsste ihn.
~
„Caron…“, wimmerte Xeria schwach, als er seine Sinne nach einem kurzen Aussetzer zurück erlangte. Noch immer fuhren im Schmerzen durch seine Schulter, die bis in seinen Brustkorb und runter in die
Krallen seiner Pfote erstreckten und ihn mit ihrer Existenz quälten.
„Pah!“, fauchte er nur und stach erneut zu, „Stirb!“
Licht. Helles Licht. Viel helles Licht. All das Licht breitete sich in diesem Moment dort aus, wo sich Xeria und Caron in diesem Moment befanden, und verschränkten beider Sicht. Was war das?
„Was ist das, oh Jäger. Redet!“, zischelte sein Angreifer und kam ihm bedrohlich näher, den Dolch weiterhin bereit haltend.
Xeria war sich selbst nicht ganz sicher was gerade geschehen war, doch hatte eine Art unsichtbare Kraft ihm neue Macht verliehen, den Schmerz in seiner Schulter schien er gar nicht mehr zu spüren. Er
schüttelte auf die Frage seines Gegenübers nur den Kopf und stürzte sich dann mit einem großen Satz auf ihn. Hasserfüllt tauchten seine Klauen in sein Fleisch ein und augenblicklich schoss Blut aus
der Wunde, die Xeria ihm soeben verpasst hatte. Nun verbiss er sich auch mit seinen Zähnen im Fleisch seines Gegners, Schulter und Hals hatte er nun vollkommen in seinem Besitzt. Er knurrte grollend
und funkelte Caron boshaft an.
„Das ist noch nicht vorbei“, hustete dieser und richtete sich auf, seinen linken Arm hebend. Von einer Sekunde auf die nächste hatte Xeria erneut einen Dolch im Körper stecken, dieses Mal hatte es
der Kronprinz auf seinen Rücken abgesehen.
„Wieso hast du sie verraten?“, fauchte der Werwolf, als er langsam von seinem Gegner abließ und sich schützend vor ihm niederlegte. Er hatte die Pfoten auf seine Schnauze gelegt, als Zeichen des
Aufgebens.
„Ich habe sie nicht verraten, Yuki wurde entführt und das weißt du auch, elendes Wolfsgetier“, fauchte Caron und stach erneut zu. Aus heiterem Himmel schoss der Dolch hinab und grub sich verachtend
in Xeriaxs Schulter, dieses Mal in die andere. Nu mehr unfähig sich zu bewegen, lag der Kopfgeldjäger wehrlos am Boden und murmelte dort verachtende Worte vor sich hin.
„Du lügst, Caron…“, knurrte Xeria; hätte er die Macht dazu würde er jetzt aufstehen und ihn erneut angreifen.
„Gib es auf, Jäger. Ich habe Yuki nicht verraten, man hat sie entführt und –“
„Warum hast du sie nicht gerettet!?“, warf der Werwolf keuchend ein.
„… und ich weiß nicht wo sie sich aufhält. Nun ja, wie auch immer. Erklär mir bitte, was das für ein gleißender Lichtstrahl war, der dich offenbar so schön mit Energie gefüllt hat“, fuhr Caron mit
seiner Rede unbeirrt fort und beendete diese schließlich mit einer Frage.
„Ich weiß es nicht… Was machst du jetzt mit mir?“, antwortete Xeria ihm mit einer Gegenfrage.
„Das ist doch offensichtlich…“, hauchte Caron, „Das war ein Vergehen an den Kronprinzen Fuykais… und wird bestraft mit… dem Tod“
Xerias Pupillen weiteten sich ein letztes Mal, bevor Caron seinen Dolch hob und ihn zerstörerisch in Richtung des Burstkorb des Werwolfes stach. Ein leises Knacken erfüllte den Raum; ein brachialer
Schrei eines Tieres, welches in diesem Moment seinen letzten Atemzug tat, hingegen übertönte dieses vergleichsweise kleine Geräusch und betäubte sogar Carons Ohren ein Wenig. Blut quoll aus der Wunde
am Brustkorb des Wolfes und verklebte ihm sein Fell. Sein Atem ging nicht mehr stoßweise – er atmete nicht mehr. Das rhythmische Schlagen seines Herzens hatte aufgehört und nur noch leichte
Nachtodzuckungen waren an den Hinterläufen des Werwolfes zu erkennen, doch es dauerte nicht lange, bis seine Starre den Eiszapfen an den Bäumen außerhalb des warmen, schützenden Raumes glich.
Das hat er nicht verdient, Caron…
‚Doch, Yuki… Das hat er.‘
Und erneut macht uns das Schicksal einen Strich durch seine eigene Rechnung…
~
Tausend und ein Schmetterling schossen in diesem Moment in ihrem Bauch hinauf und erfüllten ihren gesamten Körper mit Leidenschaft und Liebe. Sie fühlte sich frei und doch geborgen in den Armen des
Jungen, den sie doch eben erst kennengelernt hatte. Seine Lippen waren zart und die Berührung dieser auf der ihren glich nicht mal annähernd dem größten Glücksgefühl, welches das Mädchen in ihrem
noch so kurzen Leben bisher verspüren durfte. Nein, dieser Kuss war nicht irgendeiner, wie man ihn eben mal hatte… Zumal es ihr erster Kuss war, doch spielte dieser Aspekt hier keine Rolle. Es war
einfach nur schön. Plötzlich fühlte sie sich nicht mehr verloren, irgendwo im Niemandsland, wo man sie zwar zu kennen, aber sie niemanden hatte, mit dem sie reden konnte. Sie war nicht mehr allein,
denn jetzt war er wieder da. Selbst wenn die Welt um sie herum in Flammen aufgehen würde, es wäre ihr nur für diesen einen Augenblick egal. Seine Wangen färbten sich leicht rötlich, gleich der ihren,
doch sie spürte, dass auch er es schön fand. Sie hielt die Augen geschlossen und war glücklich, zum ersten Mal seit ewiger Zeit.
Ihr war nicht mehr kalt.
„Ich…“, stammelte Yume beschämt und senkte ihren Blick, die Augen auf ihre aktuell nackten Füße fixiert, welche nach wie vor von dem Baumhaus der Eule Erýn baumelten und ein wunderschönes Bild
abgaben. Sie versuchte sich selbst abzulenken, legte eine Haarsträhne ihrer wunderschönen, hellen Pracht über ihr linkes Ohr und schloss die Augen. ‚Warum habe ich das gemacht? Ich kenne ihn doch
kaum… Aber ich konnte auf einmal nicht anders… Er hat mich dazu gezwungen… Oder? Nein, das war anders. Etwas hat mich dazu gezwungen, ich konnte mich nicht dagegen wehren. Es ist einfach so
passiert… Was war das nur?‘, überlegte Yume, während sie darauf wartete, dass nun auch Ryo etwas sagen würde.
„Du hast es nicht vergessen…“, meinte er mit brüchiger Stimme, den Kopf ebenfalls gesenkt. Auf seinen Lippen meinte Yume ein Lächeln erkennen zu können; das stimmte sie glücklich. Da war wieder
dieses Gefühl. Wenngleich sie ihn nicht kannte verspürte sie doch eine unendliche Sympathie ihm gegenüber. Es war zwar ein gruseliges, aber genauso wunderschönes, überwältigendes Gefühl und sie
wünschte sich insgeheim, dass es nie wieder aufhören würde. Dennoch wollte sie mehr erfahren. Neben den unglaublichen, nein, gar unbeschreiblichen Gefühlen, die sie gegenüber diesem Ryo empfand,
wollte sie auch wissen, was das alles sollte; sie wollte Antworten. Und just in dem Moment in dem sie fragen wollte, erreichte sie postwendend die Antwort des Elfs, als hätte er ihre Gedanken lesen
können.
„Nein, wir kennen uns noch nicht. Es geht auch viel weniger um uns, als um ihn…“ Er sprach in einem einzigen Rätsel, wie sollte man das denn wieder verstehen?
„Yume, du weißt sicherlich schon, dass du in unsere Welt geboren wurdest, um sie zu retten. Du bist die Außerwählte“, begann Ryo seine Erklärung. Yume nickte und murmelte nur leicht genervt: „Das
wurde glaube ich schon erwähnt, ja…“
„Du bist aber nicht die Erste. Nein, es ist eine Art Zyklus. Er schickt uns einen Cryani, wenn die Welt vor dem Ende steht. Die Legende erzählt von Sieben dieser Art – er hat uns
damit sieben Möglichkeiten gegeben uns, und unsere Welt, zu retten. Du bist die Letzte Cryani, insofern man der Legende Glauben schenkt.“
„Cry…?“, versuchte das Mädchen perplex den Ausdruck zu wiederholen, der sie offenbar perfekt beschrieb.
„Cryani; das bedeutet Außerwählte“, antwortete Ryo beiläufig, sodass man es schon fast überhören konnte, und fuhr daraufhin unbeirrt fort, „Teron, der erste Cryani Fuyakis. Er verhinderte damals den
Vulkanausbruch im Süden und rettete den Kontinent vor dem sicheren Tod. Suya, die zweite Cryani. Als sich eine schreckliche Flut ankündigte erschien sie und besänftigte die Meere sodass unsere Insel
nicht des Meereswassers gleich gemacht wurde. Sempain, der dritte Cryani. Er verhinderte dass Shun, der Tyrann, alle Völker unterwirft und sich zum alleinigen Herrscher ernennt. Noyu, der vierte
Cryani. Als es Sterne regnete und ein besonders großer Stern unser‘ aller Leben aus zu löschen drohte, trat er diesem entgegen und verhinderte den Einschlag, sodass unser‘ Vorfahren Leben gerettet
war. Kyia, die fünfte Cryani. Einst waren es die Wölfe, die sich vereinten und gegen uns anderen auflehnten. Sie beendete den Krieg und sorgte für Frieden und Eintracht. Und schließlich Tojiu, der
sechste Cryani… Nun, sein Werk wurde nicht vollendet. Er war der erste Außerwählte der es nicht schaffte Fuykai vor einer Katastrophe zu bewahren. Und allzu lange ist es auch noch nicht her…“
Fragend sah Yume den Elf an, der nun ebenfalls seinen Blick gesenkt hatte. War das dort eine Träne? Nur kurz hatte etwas aufgeblitzt von dem sie glaubte es sei diese Flüssigkeit, die Trauer und
Schmerz deutlich machte. Was war damals passiert? Sie zog eine Augenbraue hoch und blickte Ryo liebevoll ins Gesicht. Seine braun-grünen Augen waren in tiefe Trauer getränkt und im Schein der
Sternschnuppen, die nach wie vor in unzählbaren Mengen vom Himmel regneten, sah er noch wunderschöner aus, als er es eh schon war.
„Nun… Tojiu hätte den Krieg der heute herrscht verhindern können. Als sich die Schatten auflehnten unter dem Befehl von Jigoku stand der Cryani eben diesen in einem Kampf epischen Ausmaßes Gegenüber.
Als Jigokus Armeen vor Kyodaina standen herrschte ein gewaltiger Kampf zwischen diesem und Tojiu. In diesem Kampf starb er und mit ihm fielen die Mauern der damaligen Hauptstadt des westlichen
Königreiches. Im Zuge des Angriffes auf Kyodaina tötete Jigoku, der damals zum ersten Mal bei einem Schlachtzug anwesend war, Silu Bajia und Silo Onuo. Prinzessin Yuki und Prinz Caron konnten
entkommen… vorerst.
Jedenfalls war dies das Ende unserer Welt. An dieser Stelle sahen wir keine Hoffnung mehr. Die Überlebenden der Verbündeten zogen sich auf die bis dato fast unbewohnte Insel zurück auf der wir uns
zurzeit befinden und stärkten sich dort während der Feind kampflos den westlichen Kontinent übernehmen konnte.“
Yume schwieg.
„Du bist die siebte und letzte Cryani. Es ist dein Schicksal uns den Frieden zu bringen. Du musst Jigoku töten und seine Armee niederschlagen; einen anderen Weg den Frieden nach Fuykai zu führen gibt
es nicht.“
Ihr Pupillen weiteten sich ängstlich. „Ich…“, stammelte sie verzweifelt und sah Ryo tief in die Augen. Neben Mitgefühl und Trauer fand sie dort vor allem aber Entschlossenheit. Sie war das letzte
Aufgebot.