K A P I T E L _ XVI

Wiedersehen «

Rückkehr ist manchmal weniger schön als erwartet. 
Denn man trifft neben alten Freunden auch alte Feinde.

— Selbstverfasst



Vorsichtig trat Ryo einige Schritte des Pfades hinab, als wäre dieser plötzlich nicht mehr derselbe. Nach einigen Momenten schüttelte er diesen Gedanken offenbar ab und lief tatsächlich wieder normal, wobei dieses selbstverständliche Laufen, für Yume unergründlich, langsam aber sicher in ein Rennen überging, sodass Ryo den Pfad praktisch runterhastete und viel schneller unten war, als sie. Dort stand er, an der breitesten Straße des Dorfes, welche auf beiden Seiten von Häusern und kleineren Gassen umringt wurde. Am Ende des Weges konnte man einen weiteren Pfad erkennen, der wohl wieder aus dem Tal hinaus führte.
„Wie meinst du das?“, hauchte Yume dann, teils voller Ehrfurcht, teils erschöpft, als sie etwas verzögert schließlich auch am Dorfeingang ankam. 
Eine Antwort erhielt sie nicht, stattdessen lies der Elf sie stehen und mache einige, wenige Schritte in das Dorf hinein – auch dieser gang festigte sich zu einem standardgemäßen Gehen, nach einigen Augenblicken der Anspannung. Dennoch schritt Ryo langsam durch die Häuser, Yume hastete ihm ein paar Wimpernschläge darauf hinterher, bis sie ihn erreicht hatte. Immer wieder blickte er sich nervös um; sein Kopf schwenkte ständig von rechts nach links und wieder zurück. 
„Ryo, ich glaube du hast recht“, meinte Yume mit belegter Stimme, nachdem sie fast die Hälfte der Straße passiert hatten, „Ich kann wirklich niemanden sehen – kein Lebenszeichen…“
„Das kann aber nicht sein…“, flüsterte er ruhig. „Das kann nicht sein!“ Sein darauf folgender Schrei schallte von den steilen Felswänden auf und ab und begleitete sein trostloses Zusammensacken wie eine gespenstische Melodie. Verbittert fiel er auf die Knie und schlug daraufhin mit den Händen auf den steinharten, dreckigen Untergrund. 
„Warum? Warum nur?“, hörte sie ihn leise fragen. 
„Glaubst du man hat…“, versuchte Yume anzudeuten, was sie dachte. Es fiel ihr nicht leicht, dies zu sagen und sie hatte auch nicht vor, diesen Gedankengang weiter auszuformulieren; es würde ihm sicher wehtun, zu hören, was hier ihrer Meinung nach geschehen war. Auch, wenn es eigentlich recht offensichtlich war. Die Häuser waren teilweise sehr zerstört und überall konnte man Ruß sehen. Sicher hatten einige feindliche Krieger dieses Dorf auf ihrem Feldzug einfach überfallen und die Einwohner entweder kaltblütig getötet oder als Sklaven mit sich genommen… 
„Ja“, war Ryos monotone Antwort, nach einigen Sekunden, „Das war meine Heimat…“ All dies, gefolgt von einer Zeit des Schweigens. Eine ganze Weile lang, wagte es keiner der Beiden, die majestätische und doch so traurige Stille zu unterbrechen und so kommunizierten die beiden im Stillen ohne Worte. So lange, bis sie auf einmal unterbrochen wurden. 

„Es stimmt nicht ganz, was du da sagst, Kleine…“, krächzte eine ältere Frauenstimme. Yume und Ryo drehten sich um und in einer dunklen Ecke an einer Gasse zwischen zwei Häusern, von denen eines fast gänzlich abgebrannt und bei dem anderen sämtliche Fenster eingeschlagen und die Tür zerstört worden waren, saß doch jemand. Die Frau war schon sehr alt; ihr Haar war grau und ihr Gesicht überzogen von Falten. Ihre Augen sahen ermüdet aus und ihre Kleider waren größtenteils zerfetzt. Auch ihre Statur sah nicht gut aus, obgleich man nicht allzu viel sehen konnte. Ihre Arme waren dünn und man konnte wahrlich ihre Knochen unter der Hand erkennen, auch aus einiger Entfernung. In den Armen hielt sie ein Kind; es schien zu schlafen. 
„Wer sind sie? Sind noch andere Leute hier?“, platzte es aus Yume heraus, woraufhin sie einen mahnenden Blick seitens Ryo erntete. Ihr Freund und Begleiter wollte nicht, dass sich das Mädchen in Gefahr begab, wenn sie mit fremden Lebewesen redete. Doch in diesem Moment kam es einfach über sie… Dieses Bild; die alte Frau und das junge Kind, beide aufs letzte abgemagert, in den ältesten Stofffetzen dort in Dreck und Staub im Dunkeln sitzend… 
Eine Träne quoll aus ihrem rechten Auge hervor und nahm ihren Weg, ihre Wange hinab, bis sie schließlich von ihrem Gesicht Abschied nahm und sich dem Boden nährte; wo sie aufkam und zerschellte. Nach einem Wimpernschlag folgten weitere Artgenossen ihrem Beispiel und kurz darauf begann Yume zu weinen; ganz fürchterlich zu weinen. Nun war sie es, die nicht mehr aushielt, was sie hier sah. Sie knickte ein, ihre Knie verloren Kraft und so stürzte sie ohne Vorwarnung zu Boden. Sie landete auf ihrem Rücken, schluchzte etwas lauter auf, doch bleib sie dort liegen. Sie hob lediglich ihre Hände und verdeckte ihr Gesicht. 
„Sie hat recht. Wer sind sie?“, fragte Ryo, während er sich vor Yume hinkniete und ihr zärtlich über ihre Wange streichelte.
„Mein Name ist Aysup. Ich wohne schon seit meiner Geburt hier im Dorf. Ich bin nicht allein, noch einige wenige andere haben den Überfall vor ein paar Tagen überlebt und wurden nicht mitgenommen. Die Mutter meines Enkels allerdings haben sie entführt… Oder getötet, wer weiß.“ Verachtung, aber auch bittere Trauer verbargen sich in den Tiefen ihrer alten, gebrechlichen Stimme, doch der Hass auf diese Leute war trotz allem keineswegs zu überhören. 
„Aysup…“, flüsterte er nachdenklich, „Verstehe. Sie sollten hier nicht sein, die Feinde könnten jeder Zeit zurück kommen und euch mitnehmen.“
„Und wo sollen wir dann hin? Was bietet man uns für Optionen? Guter Mann, es ist Winter“ – an dieser Stelle lachte sie sarkastisch auf und warf ihre Haare nach hinten, was sie um einiges jünger wirken ließ – „was glauben sie eigentlich, wie wir das überleben sollen?“

Während sich Ryo und Aysup weiterhin unterhielten dachte Yume über das nach, was sie gehört hatte. Waren diese „Feinde“ von denen Ryo als sprach, dessen Identität sie jedoch immer noch nicht wirklich kannte, wirklich so grausam? Hielten diese es wirklich für richtig, einem Kind einfach die Mutter zu nehmen? Einfach ein hilfloses und schuldloses Dorf zu überfallen und es in Schutt und Asche zu brennen? War das wirklich okay? 
Verbittert warf Yume einen flüchtigen Blick auf die alte Frau. An ihrem Händen waren Schnittwunden zu erkennen, welche sich – nicht nur dort – über ihre dünne, fahle, faltige Haut zogen und sie um einiges bedrohlicher wirken ließ. Hatte sie etwa gekämpft? Das Mädchen sah erneut hin, dieses Mal etwas genauer… Und sollte sie sich nicht täuschen, erkannte sie dort unter dem vermeidlichen Gewand der Frau die Umrisse eines Dolches zu erkennen. In welchem Zustand musste eine Gesellschaft sein, wenn sogar alte Frauen an Kämpfen beteiligt waren? 
Yume entfernte sich unauffällig einige Schritte von Aysup und Ryo und beschloss, die restlichen Überlebenden zu suchen. In ihrer rechten Hand hielt sie – ebenso – einen Dolch, den ihr Begleiter ihr mit den Worten „Verwende ihn nur im Notfall“ überreicht hatte. 
Nur eine knappe Hand von Hausruinen weiter bog Yume rechts in eine Art Gasse ein. Sofort legte sich Schatten über ihren Körper und instinktiv umklammerte sie den Girff ihres Dolches etwas kräftiger. Sie hörte jeden ihrer Schritte um ein Vielfaches lauter, da man sonst nichts – aber auch gar nichts – in diesem Dorf hören konnte. Etwas weiter entfernt, und nur noch ganz leise, vernahm sie noch die Geräusche des Gespräches zwischen Ryo und Aysup, welches also nach wie vor fortgeführt wurde. Dennoch ließ sie sich davon nicht beirren und lief weiter. Unter ihrem Schuhwerk knirschte geräuschvoll eine Mischung aus kleinen Steinen und Sand und ein leichter Wind pfiff über den offenen Weg, sodass auch die Seitengassen, so wie diese in der sie sich in diesem Moment befand, von Luftzügen erreicht wurden. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, doch sie versprach sie tapfer zu sein.
Am Ende der Gasse angekommen war eine Art Platz zu sehen, in dessen Mitte ein Brunnen stand. An dessen niedrige Mauern angelehnt saßen drei Menschen, die Yume zunächst überhaupt nicht realisiert hatte, sodass sie panisch zusammenzuckte und erneut nach ihrem Dolch griff, als sie die drei erblickte. Eine der drei hob keuchend seinen Kopf und blickte ihr tief in die Augen. Er saß recht weit weg, doch selbst aus der Entfernung konnte Yume seine Trauer und seine Angst aus einen Seelenspiegel lesen; förmlich spüren. 
„Hallo“, grüßte sie die Drei intuitiv; die Worte hatte ihre Zunge geformt und ehe sie sich versah hatten ihre Lippen sie auch schon wiedergegeben. Sie musterte die drei, jedoch nur aus den Augenwinkeln; ihren Kopf hatte sie nach unten geneigt. Der Mann, der sie zuerst bemerkt hatte, schien noch nicht ganz so alt zu sein; etwa so wie ihr Vater. Er hatte einen rauen Bart, so wie sie das erkannte und machte allgemein einen sehr ungepflegten Eindruck. Auch er trug nur Stofffetzen an seinem Körper und hatte die Beine von sich weggestreckt. Die Arme hatte er vor seiner Brust verschränkt und auf seinem Kopf trug er einen Strohhut. Der Junge neben ihm war bedeutend jünger und in etwa in Yumes Alter – in ihrem jetzigen, nicht in ihrem Wahren. Er hatte kürzere, blonde Haare und sah etwas kräftiger und munterer als seine beiden Nachbarn aus. Von seinen Augen ging ein geheimnisvolles, blaues Leuchten aus, doch hatte er seine Beine angewinkelt vor seinen Körper gestellt und seine Arme um diese geschlungen, er fror ganz offensichtlich, was Yume nicht nur daran, sondern auch an seiner mageren Kleidung erkennen konnte. Neben ihm saß eine Frau, mittleren Alters, welche ihrem Arm um den Jungen gelegt hatte. Sie hatte langes, braunes Haar, welches jedoch an einigen Stellen schon graue Strähnen aufwies. Auch sie war vollkommen abgemagert und bestand förmlich nur noch aus Haut und Knochen. Was dem Mädchen jedoch erschreckender Weise besonders auffiel, war die riesige Narbe, die sie an ihrer Schulter erkennen konnte. In ihrem Gewand war ein richtiger Riss, mindestens einen Unterarm lang, welcher sich quer über Brust und Rücken zog und auf ihrer Schulter lag. Darunter konnte sie eine zirka ein Finger breite, blutrote Narbe erkennen; der Schnitt schien noch sehr frisch zu sein. Sie zuckte zusammen beim Anblick, der drei Gestalten. 
Ja, eine Träne kullerte ihre Wange hinab. Sie wollte keine Emotionen zeigen, das hatte sie eigentlich gar nicht vor gehabt, aber was sie hier sah… Plötzlich fühlte sie etwas, was sie zuvor noch nie gespürt hatte. Es war ein Gefühl, dass sie ganz intensiv gegenüber den Leuten verspürte, die diesen Menschen so viel Leid angetan hatten. Es war unglaublich stark und ließ Yume förmlich aufschäumen. In der Tat, die Emotion, die sich gerade in ihr breit machte und sich immer weiter und weiter vermehrte war Hass. Sie hasste diese Leute für das, was sie den Menschen des Dorfes hier angetan hatten.

Der Junge hatte ihren Gruß bemerkt und ihr mehr oder weniger freundlich zugenickt. Sie lief unsicher auf die drei zu, als der etwas ältere Mann ihr bedeutend mit einer Handbewegung klarmachte, dass es ihr gestattet sei. Während sie näher trat konnte sie auch kleinere Narben an den Körpern der Frau erkennen; auch der Junge schien leichtere Verletzungen davon getragen zu haben. 
„Wer bist du?“, fauchte die ältere Frau und blickte Yume argwöhnisch in die Augen.
Doch sie schien dies nicht zu kümmern. Sie machte einen Schritt auf den Jungen zu, der ihren Gruß erwidert hatte, und legte intuitiv ihre Hand auf seine Stirn. Sie schloss die Augen, atmete tief aus. Sie spürte einen Schauder durch ihren Körper laufen, in diesem Moment fragte sie sich noch gar nicht was und warum sie es machte. Ihr ganzes Denken konzentrierte sich nur auf diesen Jungen, der vor ihr saß. Sie kniff die Augen förmlich zusammen, spürte die Energie in ihrem Körper fließen. Sie spannte all ihre Muskeln an, als sich eine mächtige Kraft in ihr breitmachte und ihren Körper beinahe auf die Knie zwang. Sie brauchte Mühe und Schweiß um sich auf den Beinen zu halten, doch ehe sie sich versah, blickte der Junge sie mit flehenden Augen an; gerade so hatte er es geschafft, seinen Kopf zu heben. Augen, aus denen sie ohne Zweifel Angst und Schmerz erkennen konnte. In diesem Moment kam sie zur Besinnung, der Nebel verließ ihren Kopf und sich machte sich ein Bild der Situation. Etwas, was im Nachhinein gar nicht nötig war, denn erneut wandelte der Gesichtsausdruck des Jungen. Nun schloss auch er seine Augen und Yume spürte ganz eindeutig, wie langsam Kraft aus ihrem Körper in den seinen floss. Nicht zu viel, sie konnte weiterhin das Gewicht ihres eigenen Körpers halten und auch weiterhin auf zwei Beinen stehen, allerdings genug, um den Jungen selbst wieder auf zu richten. Langsam stand er auf, sodass die um fast einen Kopf kleinere Yume letzten Endes ihre Hand von seiner Stirn lösen musste. Er hatte die Augen immernoch geschlossen.
„Ich…“, stammelte sie entschuldigend, wobei sie die beiden anderen überhaupt nicht beachtete. Der Junge jedoch, öffnete lediglich seine Augen und sah sie dankbar an. 
„Zunächst dachte ich, du setzt meinem Leben ein Ende… Wer bist du?“, fragte er sie, mit einem so offenen und freundlichen Blick, wie sie ihn wohl noch nie zuvor gesehen hatte. Fasziniert blickte sie ihn an, doch als sie langsam ihre Lippen trennte um ihren Namen mit diesen zu formen, schallte einige Meter hinter ihr eine weitere Stimme durch die Seitengasse.

„Sie heißt Yume“, bellte Ryo und lief auf die Gruppe zu. 
„Hätte nicht gedacht, dich nochmal sehen zu müssen…“, fauchte Ryo den Jungen an, schob Yume – mehr oder weniger – unsanft bei Seite und trat ihm direkt gegenüber; sie waren genau gleichgroß. Bevor dieser was erwidern konnte, machte Ryo ein leicht verzerrtes Gesicht und spuckte seinem Gegenüber dann voller Demütigung vor die Füße.

„Ryo…“, murmelte dieser noch, bevor ihn die Faust des Elf traf.