Alltag
Wenn der Tag vergeht
und leise, ganz leise
die Dämmerung naht
Wenn die Schatten
die dunklen
die Welt verwandeln
bis sie selbst
nur mehr ein Schatten ist
Ein komisches Gefühl machte sich in Yume
breit, während sie den Zettel betrachtete. Wer war Lunea? Sie konnte sie nicht daran erinnern, jemals einen Menschen mit diesem Namen gekannt zu haben. Sie umgriff den Zettel, sodass er in ihrer
Faust verschwand und keiner ihn sehen konnte. Sie wollte nicht, dass ihre Eltern auf so etwas aufmerksam wurden. Sowas… absurdes.
Vorsichtig schlich das kleine Mädchen auf die Treppe zu. Sie drehte sich noch ein letztes Mal um, um zu prüfen, ob in ihrem Wohnzimmer, oder in der Küche jemand war, und schlich dann zurück in ihr
Zimmer.
Dort angekommen schob sie behutsam die Tür zu und ließ sich auf ihr Bett fallen. Diese Nacht war so viel passiert, sie wollte einfach nur Ruhe haben.
Yume legte ihren Kopf auf das Kissen. Ihre Augen fielen zu und nach kurzer Zeit war Yume wieder eingeschlafen.
~
Überrascht fuhr Yume hoch. Sie hatte ein Klopfen gehört, was könnte das wohl sein. Vorsichtig lugt sie erst zum Fenster und dann zur Tür. Es war schon hell, wahrscheinlich hatten ihre Eltern schon
gefrühstückt. Erneut klopfte es. Vorsichtig stand sie auf, lief zur Tür und drückte die Klinke herunter.
Ein großer Mann, mit braunen Haaren, einem kleinen Bart und einem Lächeln auf dem Gesicht trat in Yumes Zimmer ein und setzte sich auf die Bettkante.
„Guten Morgen meine Kleine!“, pfiff er fröhlich, als er ihr über die Wange streichelte.
„Morgen Papa.“ Stotterte Yume verwirrt. Alles war heute so komisch, Gestern war ihr Vater noch schlecht gelaunt und heute… Er strahlte regelrecht.
„Der Tisch ist schon gedeckt, zieh dich schnell an und komm frühstücken.“ Sagte ihr Vater und stand auf. Yume nickte nur kurz und wartete darauf, dass ihr Papa endlich ihr Zimmer verlassen
würde.
Als er die Tür geschlossen hatte, ließ sie Yume erneut auf ihr Bett fallen. Was war denn heute nur los mit ihr?
Ein Lächeln huschte ihr über die Lippen. So konfus war sie lange nicht mehr. Das letzte Mal… vor einem Monat, als Vollmond war. Das sollte wohl jetzt immer so sein.
„Was solls!“, murmelte Yume in Gedanken versunken vor sich hin. Sie wollte immer noch wissen was es mit Lunea auf sich hatte, wer das war. Vielleicht würde sie beim Esstisch eine Antwort
bekommen.
Also streifte sich das Mädchen schnell noch einen Pullover über und verschwand durch die Tür.
Wie ihr Vater gesagt hatte, war der Tisch bereits gedeckt. Es duftete schon nach frischem Tee. Sie setzte sich und begann nachdenklich zu frühstücken. Ihre Eltern unterhielten sich über Politik, doch
eigentlich war das Yume ziemlich egal. Sie wollte nur so schnell wie möglich wieder in ihr Zimmer. Das Mädchen hielt nichts von gemeinsamen Sachen, sie war sehr… verschlossen.
Ihre Eltern, besonders ihre Mutter, machten sich sehr oft Sorgen, wegen ihrer Art. Die beiden wussten nicht, was Yume den ganzen Tag in ihrem Zimmer machte. Sie wussten nicht, dass ihre Tochter des
Nachts machte, eigentlich wussten sie gar nichts.
Yume war gerade mit ihrem Brötchen fertig gewesen, da wollte sie aufstehen, doch ihre Mutter griff nach ihrem Arm und streichelte ihr, mit der anderen Hand behutsam über die Wange.
„Wieso wollen wir heute nicht etwas spazieren? Heute ist so tolles Wetter und morgen musst du wieder in die Schule!“
Ihre Mutter hatte Recht, heute war wirklich bezauberndes Wetter. Die Sonne schien und es pfiff nur eine leichte Brise durch die Straßen. Doch Yume antwortete nicht. Sie wusste nicht was sie sagen
sollte.
„Ist etwas, Yume?“, fragte nun ihr Vater mit besorgter Stimme.
Doch Yume schüttelte nur den Kopf. Nach ein paar Sekunden antwortete sie ihrer Mutter dann:“Okay, ich komme gleich!“ Sie hörte sich schwach an, fast schon hauchte sie ihrer Mutter zu.
Mit diesen Worten verschwand Yume aus dem Esszimmer.
Sie lief auf die Treppe zu, doch als ihr Fuß die erste Stufe berührte stoppte sie ab. Vorsichtig neigte sie den Kopf nach vorne und lauschte dem leisen Gespräch ihrer Eltern.
„Was ist denn nur mit Yume los, in letzter Zeit?“
„Ich weiß nicht. Sie wirkt so abwesend, als wäre sie mit dem Kopf gar nicht hier. In Gedanken versunken…“
„Nur wo?“
Sie hatte genug gehört, ihre Eltern wussten nichts, gar nichts.
Traurig lief Yume die Treppe hoch und huschte in ihr Zimmer, sie wollte einfach nur hier weg!
In ein anderes Haus, eine andere Stadt, eine andere Welt…
Ich mache mir wirklich Sorgen um Yume.
Du hast Recht, wir sollten nach ihr schauen, sie wollte eigentlich gleich wieder kommen…
Ihr Vater stand vom Tisch auf und folgte ihrer Mutter nach oben. Sie liefen auf Yumes Zimmer zu, und ohne zu klopfen, traten sie ein. Alles war ruhig, nichts regte sich.
Yume lag eingerollt und zugedeckt in ihrem Bett und schlief. Ihre Arme hatte sie um ihren Teddy geschlungen.
Sie ist so bleich… Und in letzter Zeit auch so müde. Was ist nur mit unserer Tochter los?
Leise schlichen ihre Eltern wieder aus dem Zimmer ihrer Tochter, die Sorge stand ihnen beiden ins Gesicht geschrieben. Sie mussten herausfinden, was mit ihrer Tochter los war, warum sie… so anders
war.
Ein leises Piepen begann zu ertönen. Es wurde immer lauter und lauter, bis es auf dem höchsten Punkt angekommen war. Einen Moment lang, hörte man nichts anderes als das Piepen. Doch dann regte sich
etwas.
Yume warf ihr Decke zur Seite und drehte sich zu ihrem Nachttisch, wo ein Wecker stand. Von ihm ging das Piepen aus. Es war sechs Uhr dreißig morgens, an einem kalten Wintermontag. Heute war wieder
Schule und sie musste sich beeilen, um den Bus nicht zu verpassen. Sie drückte auf einen Knopf am Wecker, sodass das Piepen stoppte.
Das Mädchen richtete sich auf und lief zu ihrem Schrank. Es war ein hellbrauner Holzschrank, den sie schon seit ihren Krabbeltagen hatte. Sie öffnete die Schranktür und zog eine Hose und einen
Pullover heraus, die sie auf das Bett warf. Yume schloss die Tür wieder und ging zu ihren Klamotten. Sie setzte sich auf ihr Bett, und begann sich anzuziehen.
Als sie alles an hatte, lief sie zum Fenster und machte den Rollladen runter. Etwas Sonnenlicht trat durch den Spalt und tauchte ihr Zimmer in eine angenehme Mischung aus orange, gelb und rot.
Draußen lag Schnee und die Straße war noch nicht gestreut worden.
„Na super“, dachte Yume verzweifelt. „Dann kommt der Bus wieder zu spät…“
Als Yume gefrühstückt hatte, Zähne putzen gegangen war und ihre Schultasche gepackt hatte, kam ihr Mutter auf einmal.
„Yume! Hier, nimm das mit.“
Ihre Mutter drückte ihr einen kleinen Ring in die Hand. Sie runzelte die Stirn.
„Was ist das, Mama?“, fragte sie verwirrt.
„Diesen Ring haben Papa und ich gestern auf dem Dachboden gefunden, er gehörte deinem Großvater. Ich möchte dass du ihn heute trägst.“
Der Ring war silbern und glänzte im Licht. Auf der Oberseite war ein silberner Eiskristall abgebildet, während auf der Unterseite in kleinen Buchstaben etwas eingraviert war. Yume konnte es nicht
lesen, die Zeichen waren einfach zu klein.
„Danke Mama…“ hauchte sie. Die beiden umarmten sich.
Darauf zog sich Yume ihre Jacke an und griff nach ihrer Schultasche. Sie ging zur Haustür und winkte noch einmal, worauf ihre Mutter zu ihr gelaufen kam, und sie auf die Wange küsste.
„Viel Spaß in der Schule, meine Kleine. Bis später!“
Mit diesen Worten im Ohr verließ das Mädchen das Haus. Der Bürgersteig war mit Schnee bedeckt. Überall, egal wo man hin sah, war alles weiß. Die Häuser, die Bäume und auch die Bushaltestelle waren
wie mit Sahne bedeckt.
Zitternd stand sie an dem grünen Schild, auf dem die Zahlen ihrer Buslinie standen. Es schneite immer noch etwas. Yume streckte vorsichtig eine Hand nach einer kleinen Schneeflocke aus. Als sie eine
berührte verschwanden auf einmal alle ihre Gedanken, sie fühlte sich eins mit der Natur und der Welt. Die Flocke schmolz in ihrer Hand daher, und fand dort ihre letzten Momente. In Gedanken verloren
stand Yume an der Haltestelle und wartete auf den Bus.
Ein Rauschen und ein Hupen, riss sie nach kurzer Zeit wieder zurück in die Realität. Ihr Bus stand dort und wartete, dass sie einstieg. Wer weiß wie lange er schon auf sie wartete?
Sie trat ein und zeigte dem Busfahrer ihre Jahreskarte. Sie fuhr jeden Morgen mit dem Bus. Ihr Vater musste immer schon sehr früh los zu seiner Arbeit. Was genau er da machte, wusste sie zwar nicht,
aber es muss etwas unglaublich wichtiges gewesen sein. Da sie nur ein Auto hatten, konnte ihre Mutter sie nicht fahren, weshalb als Option nur noch der Bus blieb.
Yume lief durch die Reihen und fand schließlich in der zweiten Hälfte des Busses einen freien Platz. Sie saß neben einer altern Frau, die wohl einkaufen wollte.
So liebe Kinder, legt nun bitte alle den Stift weg und dreht euer Blatt um.
Yume hasste die Schule. Heute musste sie in Mathe einen Test schreiben und das kam ihr gerade Recht. Sie hatte nicht gelernt und überhaupt war sie nicht wirklich gut in Mathe. Was ihr gut lag, war
Deutsch. Sie liebte es zu dichten und zu schreiben. Zum Glück war die Mathe-Stunde gleich rum. Als nächstes würde sie Pause haben und dann endlich Deutsch. Sie freute sich schon darauf, ihrem Lehrer
ihr neustes Gedicht zu präsentieren.
Und da kam auch schon ihre Mathe-Lehrerin und griff nach dem Papier, auf dass Yume die Antworten geschrieben hatte. Das Thema dieses Testes waren Textaufgaben. Man könnte meinen das wäre etwas zu
früh, so etwas schon in der dritten Klasse zu behandeln, aber ihre Lehrerin kannte die Wörter zu früh oder zu schwer nicht.
Da klingelte auch schon die Schulglocke. Nun hatte sie endlich große Pause. Entspannt packte sie ihre Sachen zusammen und legte ihre Schultasche in die Ecke, zu den anderen Taschen. Die ganze Klasse
machte das immer, da in ihrem Raum in der großen Pause immer Schüler-Sanitäts-Treff war und sie nicht wollten, dass sie ihre Taschen störten.
Yume hatte beschlossen sich heute in der Pause den Ring genauer an zu sehen, denn sie schaffte es nicht, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie verließ das Klassenzimmer und folgte den anderen
Kindern auf den Schulhof. Dieser war nicht gerade der schönste. Es war ein normal-großer Schulhof, mit Kies aufgefüllt. Leider war es so viel Kies, das man gar nicht richtig laufen konnte, weil man
immer versunken ist. An einigen Stellen gab es einen schmalen asphaltierten Weg, der zum Tor führte.
Ab und zu sah man mal einen kleinen Baum im Kies stehen, und in der Mitte des Hofes war eine große Insel aus irgendwelchen Sträuchern. Drum herum standen Bänke, auf denen man sitzen konnte. Dahinter
stand ein großes Klettergerüst, was aber schon sehr alt war.
Yume hatte ihr Plätzchen wo sie immer saß, und den anderen beim Spiel zu sah. An er Insel gab es eine kleine Lücke im Gebüsch. Dort schlich sie immer hinein und setzte sich innen drinnen, umgeben von
Dornen und anderem Gewächs auf einen alten Baumstumpf und las. Doch heute wollte sie sich den Ring ansehen. Sie lief auf die Insel zu, da kam plötzlich eine Gruppe von Jungs und Mädchen auf sie
zu.
„Hey Bleichgesicht, was machst du denn schon wieder?“, brüllte einer der Jungs, während die anderen anfingen zu lachen.
„Lasst mich in Ruhe.“ Gab Yume kleinlaut von sich.
„Sieh an, das Mondmädchen kann reden!“, prustete ein anderes Mädchen los.
Doch Yume antwortete nicht, sie versucht einfach weiter zu gehen, doch ein paar Jungs versperrten ihr den Weg.
„Komm schon, spiel mit uns.“ Begann einer der vier. „Wir spielen Fangen und du musst!“
Wieder lachte die ganze Gruppe. Yume drückte sich an ihnen vorbei und flüchtete zurück zum Eingang. Sie wollte einfach nur weg von hier.
Eine Träne trat aus ihrem Auge hervor und kullerte ihre Wange hinunter. Sie fragte sich jeden Tag wieder, was sie den anderen getan hatte. Sie war immer nett und freundlich zu ihnen, doch…
Wie benommen drückte Yume auf einen roten Knopf auf dem in schwarzer Schrift Halten stand. Als der Bus an der Haltestelle angekommen war, öffneten sich die Türen und sie trat heraus. Sie stellte sich
an die Haktestelle und wartete kurz, bis der Bus weg war. Dann setzte sie sich auf den Boden, legte den Kopf in ihre Arme und begann bitter zu weinen. Eine Träne nach der anderen kullerte ihr über
die Wange und tropfte in den Schnee. Sie wusste nicht was sie noch tun sollte. So viele lief falsch in ihrem Leben…