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Kapitel III
Blutrote Krallen

Die Angst ist ein stummer Begleiter,
sie ist weder Freund noch Feind.
Sie macht uns nicht gescheiter
auch wenn es so auszusehen scheint.




Traurig raffte sich Yume auf. Sie saß schon sehr lange im Schnee. Die ganze Zeit über, hatte das Mädchen nichts anderes gemacht, als geweint. Ihre Mutter würde bestimmt bald ausflippen, wenn sie nicht nach Hause kommen würde. Es war ja auch schon fast richtig dunkel, da brauchte sie wohl eine Ausrede.
Erschöpft schniefte sie und lief nun die Straße entlang. Das Haus ihrer Familie war nur eine Seitengasse von der Haltestelle entfernt, daher hatte sie es nicht weit. Am besten wäre, wenn sie sagen würde dass sie bei einer Freunden gewesen wäre. Das würde ihre Mutter ihr bestimmt glauben. Nur welche Freunde? Sollte Yume etwa jemanden erfinden? Sie würde doch ihre eigene Mama nicht anlügen, obwohl sie wusste, dass sie es tun würde und musste. Das Mädchen wollte nicht, dass ihre Mutter wusste, wie es ihr in der Schule und auch sonst überall ging… Es gab viel zu wenig Gleichaltrige Kinder, die sich mit Yume treffen wollten. Das ganze war ein endloser Teufelskreis aus dem sie nicht wieder heraus kommen würde.
Die Türklingel schallte durch das Haus und Yumes Mutter rannte hastig auf die Tür zu. In der Hand hatte sie ein Geschirrtuch, wahrscheinlich war sie gerade kochen. Vorsichtig lunzte die Frau durch den Spion und schreckte hoch. Vor Freunde. Dennoch kochte eine gewisse mütterliche Wut in ihr hoch.
Schnell öffnete sie die Tür, zog ihre Tochter am Arm in das Haus und stellte sich, die Arme verschränkt, vor das Mädchen.
„Yume ich möchte jetzt sofort eine faustdicke Erklärung wo du den ganzen Tag gesteckt hast!“, sagte ihre Mutter. Sie blieb ruhig, doch ihre Stimme war so scharf wie ein Rasiermesser.
„Ich war… bei einer Freundin spielen.“ Brachte das Mädchen stotternd hervor. Die Angst, dass ihre Mutter die Wahrheit herausfinden würde wuchs und wuchs, von Sekunde zu Sekunde. Bedrückt starrte sie auf den Boden, scharrte mit den Füßen und wartete auf die Antwort ihrer Mutter. 
„Aha. Du hättest mir natürlich nicht Bescheid sagen brauchen, meine Kleine.“ Tadelte ihre Mutter mit einem überaus sarkastischen Ton weiter. „Was hast du dir dabei gedacht? Ich habe mir große Sorgen um dich gemacht.“
Doch Yume schüttelte nur den Kopf. Was sollte das jetzt schon wieder heißen? Noch bevor ihre Mutter eine weitere Frage stellen konnte, legte das Mädchen die Schultasche ab und flüchtete in Windeseile in ihr Zimmer.
Gedankenverloren taumelte Yume die Treppe hinauf und lief in den Flur. Heute war ein schlimmer Tag gewesen, sie würde sich am besten in ihr Bett legen und schlafen. Was sollte sie auch anderes tun? Hausaufgaben hatte sie nicht. Freunde hatte sie auch nicht. Ihre Mutter war immer noch sauer auf sie und ihr Vater war noch arbeiten. Das einzige was ihr noch blieb waren ihre Gedichte, doch ihr war plötzlich ganz und gar nicht nach Schreiben. Dieses Gefühl kannte das Mädchen gar nicht von sich. Sonst freute sie sich immer nach Hause zu kommen und an ihren Gedichten weiterschreiben zu können. Jedoch war heute sowieso alles anders, da wunderte sie selbst so etwas nicht. Bald hatte sie das Ende es Flurs erreicht. 
Den ganzen Weg lang hatte das Mädchen auf den Boden gestarrt. Ohne den Kopf auch nur ein Stück hoch zu nehmen, legte sie ihre Hand auf die Klinke und wollte sie gerade runter drücken, als sie etwas Feuchtes, Dickflüssiges an ihrer Hand spürte. Erschrocken riss sie die Augen auf und blickte auf ihre Hand die immer noch steif auf der Türklinke lag. Vorsichtig nahm sie ihre Hand hoch, drehte sie um und wollte im nächsten Moment schreien. Doch sie konnte nicht, die Angst hatte all ihre Luft aus den Lungen gepresst, das Atmen fiel ihr schwerer. Ihre Stimme gehorchte ihr nicht und gab keinen Ton von sich, ihre Gliedmaßen widersetzten sich ihrem Impuls wegzurennen und sie blickte einfach nur bewegungslos auf den dunkelroten Bluttropfen, der sich von der Türklinke auf ihre rechte Hand übertragen hatte. Yume wurde langsam schwindelig, der Geruch der Flüssigkeit steig ihr in die Nase und ihr wurde übel. Ihre Augen begannen zu brennen und all ihre Körperteile schmerzten. 
Die Angst bohrte sich wie ein Messer durch ihr Herz und raubte diesem die gesamte Energie. Was war hier nur passiert? Wo kam das Blut her? Der Kopf des Mädchens begann immer stärker zu dröhnen und ein daueranhaltendes, helles Piepsen stach wie ein Pfeil in ihr Ohr. Ihre Geschmacksnerven wurden taub und der ganze Moment kam ihr wie tausende von Jahren vor. Dabei war noch nicht mal eine halbe Sekunde vergangen.
Wollte ihr jemand drohen? Wenn ja, wer? – Zu viele Gedanken schossen in ihrem Kopf hin und her und verursachten ein Chaos, wie sie es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Ihr wurde warm und kalt zugleich, etliche Schauer liefen ihr langsam über den Rücken und stichelten sie an zu kreischen. Doch nach wie vor war ihre Stimme weg und sie konnte sich noch immer nicht bewegen. Der Geruch des Blutes wurde immer intensiver und sie verzog schmerzverzehrt ihr Gesicht. Es fühlte sich an wie das Ende.
Plötzlich verlor sie ihr Augenlicht, alles wurde dunkel und schwarz einzig und allein der faule Geruch der roten Flüssigkeit lag ihr noch in der Nase. Doch schon nach kurzer Zeit verblasste auch dieser.
Es dauerte nicht lange, da hatte das Mädchen ihr Bewusstsein vollends verloren.

~



„Yume… Schatz… Wach auf. Alles ist gut, wach einfach auf!“
Der letzte Satz klang mehr wie ein Flehen als wie eine Aufforderung. Yume war wieder da, sie konnte wieder riechen, fühlen, schmecken, lauschen. Das einzige was es momentan zu lauschen gab war die angstverzehrte Stimme eines Mannes. Sie war weich und dennoch belegt. Anscheinend hatte der Mann große Angst um sie. Voller Schmerzen blinzelte sie mit ihren Augenliedern und erkannt den Mann mit dem ängstlichen Blick, der sich über sie gelehnt hatte und ihre Arme festhielt. Ein Lächeln entfuhr ihren Lippen, als sie ihren Vater erkannte. 
„Da bist du ja endlich, Yume. Ich habe mir schon ernsthafte Sorgen gemacht!“, flüsterte er wehmütig.
Das Mädchen lies mit ihren Augen von ihm los und erkundete aufmerksam ihre Umgebung. Alles war noch verschwommen und eintönig, doch schon bald bildeten sich die ersten richtigen Konturen und sie erkannte, dass sie im Flur vor ihrem Zimmer waren. Warum befanden sie sich hier? Was war passiert? Warum lag sie hier einfach so? War sie eingeschlafen oder… ohnmächtig?
Nachdenklich schluckte Yume und ein ekelhafter Geschmack machte sich in ihrem Gaumen breit, wie ein Virus, das einen Körper erobern wollte. 
„Was ist passiert?“, fragte das Mädchen angeekelt. 
„Du lagst hier im Flur als ich nach Hause kam. Du warst ohnmächtig und hast dich keinen Milimeter gerührt. Das Selbe könnte ich ehrlich gesagt auch dich fragen.“ Erwiderte er lächelnd. Trotz dem freundlichen Blick konnte sie etwas Schrecken und Furcht in seinen Gesichtszügen erkennen.
Verwirrt versuchte Yume sich aufzurichten. Ich Vater machte ihr Platz und sie sah sich erneut um. Erkundend streckte sie ihr Gesicht weg vom Körper und benutzte ihre Sinne. Ein bestialischer Geruch lag noch immer in der Nase. Erschrocken spannte sie diese an und schüttelte demonstrativ den Kopf.
„Was ist los?“, fragte ihr Vater besorgt.
„Blut!“
Was hatte sie da gerade gesagt? Blut? Erschrocken starrte sie ihren Vater an, doch dieser konnte ihren Blick nur erwidern, denn er wunderte sich – wahrscheinlich noch mehr als sie – über die seltsame Antwort, die seine Tochter ihm gegeben hat. 
„Schatz, bist du das dort oben?“ erklang eine helle Frauenstimme. 
„Mama.“ Hauchte das Mädchen schwach und streckte ihre Hand aus. Ein stechender Schmerz durchfuhr sie. 
„Oh mein Gott, was ist denn mit dir passiert?“, rief ihre Mutter bestürzt, als sie den Lichtschalter betätigte und in das Gesicht ihrer Tochter blickte. Entsetzt kam sie auf Yume zu und tätschelte ihr vorsichtig den Kopf. 
„Ich glaube sie war ohnmächtig.“ Verkündete ihr Vater ernst. „Wir sollten vielleicht zum Arzt fahren. Außerdem sagt sie komische Sachen.“
Für den letzten Satz wand er sich eher an ihre Mutter, als an sie selbst.
„Wie meinst du das?“, fragte die Frau verwirrt. 
„Ich habe gesagt >Blut<.“ Entfuhr es dem Mädchen bevor ihr Vater seiner Frau antworten konnte. „Ich habe Blut gesehen. Ich bin mir sehr sicher. Etwas Blut klebte an meiner Türklinke und als ich sie öffnen wollte habe ich es an meiner Hand und an der Türklinke gesehen, gerochen und gefühlt… Glaubt mir.“
Den letzten Satz fügte Yume fast flehend hinzu. Doch ihre Eltern wechselten nur Blicke und führten ein stummes Gespräch. Sie hasste es. Ihre Eltern verstanden sich blind und mussten meistens gar nicht reden. Sie saßen nur da und schauten sich an, während sie daneben saß und nichts tat. Bevor sie weiterreden konnte ergriff ihre Mutter das Wort.
„Yume sei mir nicht böse aber ich glaube deine Ohnmacht hat dir ein Wenig den Kopf verdreht. Wir bringen dich jetzt ins Bett und morgen gehst du mal nicht in die Schule, okay? Dann können wir in Ruhe überlegen was passiert ist.“ 
Ihre Mutter hatte gesprochen. Yume wusste es war nun sinn und zwecklos noch etwas einzuwenden, denn es war bereits entschieden – zumindest für ihre Eltern. Ihr Vater öffnete die Tür, während ihre Mutter schon in das Zimmer des Mädchens lief und das Bett ordentlich zu Recht machte. 
Ihr Vater legte seine Tochter behutsam ins Bett und deckte sie zu. Seine Frau winkte noch einmal und hatte den Raum schon verlassen als er noch flüsterte, dass sie nur rufen müsste, wenn etwas wäre, er würde sofort kommen. Liebevoll küsste er ihr Stirn und verlies ihr Zimmer.
Zum Glück war es draußen schon dunkel, sie musste den Rollladen nicht runter machen. Warum glaubten ihre Eltern das nicht? Sie war sich zwar bewusst, dass es ziemlich verrückt war, aber sie war ihre Tochter, sie mussten ihr einfach glauben.
Enttäuscht schüttelte Yume den Kopf. Sie war sich sicher sie hatte Blut gesehen, irgendwie ließe sich das doch sicherlich beweisen. Nur eine Sache wunderte sie… Wieso war das Blut weg? Der Geruch dieser ranzigen und faulen Körperflüssigkeit lag zwar noch in ihrer Nase, doch trotzdem waren alle Hinweise darauf verschwunden. Sie rätselte noch ein paar Stunden weiter, bis die Müdigkeit die Oberhand über die Neugier gewann und sie in einen tiefen und unruhigen Schlaf fiel.
Zurück blieben ihre Eltern, die zusammen im Wohnzimmer auf der Couch saßen und sich ernsthaft Gedanken über ihre Tochter machten.

Erneut lies die völlige Stille das Mädchen aus ihrem Schlaf erwachen. Wie viel Uhr war es? War es schon Morgen? Waren ihre Eltern schon wieder wach, oder waren sie noch gar nicht eingeschlafen? Ein Blick aus dem Fenster verriet, dass es noch Nacht war. 
„Stimmt.“ Murmelte sie gedankenverloren. Gestern hatten sie die Rollläden nicht runter gemacht, ein Grund war ihr nicht bekannt. Draußen konnte man nichts erkennen, die Dunkelheit der Nacht hatte einen pechschwarzen Mantel über die Erde gelegt. Einzig und allein eine kleine, hell leuchtende Sichel am fernen Horizont spendete etwas Licht zu dieser Zeit. Der Mond nahm nun wieder ab und wurde langsam vom Halbmond zur Sichel. Soweit war das dem Mädchen auch recht, bei Vollmond konnte sie sowieso nicht schlafen. Daran hatte sie sich zwar mittlerweile gewöhnt, doch wenn es nach ihr ginge, dann würde sie immer schlafen können. Jedoch würde so vieles anders sein wenn es nach ihr ginge. Sie könnte ihre Schule verändern. Ihre ganzes Leben könnte anders laufen und…
Ihr Gedankenfluss wurde gestoppt. Ein lautes, schrilles Kratzen fuhr ihr durch Mark und Bein. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Was war das?
Plötzlich fühlte sich das Mädchen nicht mehr sicher. Mit einem Schlag hatte die Angst die Oberhand gewonnen und kontrollierte nun ihren ganzen Körper.
Verschreckt wandte sie ihren Kopf hin und her. Da war es noch mal. Dieses laute, schrille und gemeine Kratzen, welches, wie sie nun meinte erkannt zu haben, von ihrem Fenster kam. 
Schnell drehte sie ihren Kopf zum Fenster und was sie sah erschreckte sie. Eine große, ewig lange Kratzspur von fünf Krallen hangelte sich die Scheibe herab, bis an den Fensterrahmen. In der Ferne meinte Yume ein bleiches Gesicht mit feuerroten Augen erkennen zu können, doch ein schreckliches Gefühl machte sich in ihr breit. Plötzlich wollte das Mädchen nicht mehr leben. Alles wofür sie kämpfte, alles was sie brauchte und interessierte, löste sich vor ihren Augen auf. Was auch immer diese Kreatur war, sie hatte ihr den letzten Tropfen Lebenskraft genommen. Wieder schwanden ihr die Sinne und ihr wurde schwarz vor Augen.
Draußen, weit weg von ihrem Haus ertönte eine schrille und fiese Lache. Sie schallte durch die Straßen der Stadt und verwandelte diese schöne Winternacht in ein einziges Gruselkabinett.