
Quelle
Kapitel IV
Schwarze Träume
Die Angst, sie greift mit kalter Hand
Im Nacken sträubt sich das Haar,
Gespenster seh` ich an der Wand,
so wie es immer Nachts war.
Erschrocken fuhr Yume hoch. Ihr Atem ging schnell und ihr Herz raste. Sie saß immer noch auf ihrem Bett, gestern Abend hatten Mama und Papa sie in ihr Zimmer gebracht weil sie ohnmächtig war. Sie
sagten auch etwas davon, dass sie heute nicht in die Schule gehen sollte. War denn schon heute? In ihrem Zimmer war es noch dunkel und die Rollläden hatten sie gestern nicht heruntergelassen, es
schien also noch Nacht zu sein. Ohne sich weiter umzusehen, was bei diesen Lichtverhältnissen eh schwer gewesen wäre, stand das Mädchen auf und lief auf ihren Schreibtisch zu. Mit den Armen tastete
sie sich an die Tischkante und griff dann etwas weiter, an eine Art Wecker. Yume kniff die Augen zusammen um die Uhrzeit entziffern zu können, doch es war nicht hell genug und da es noch eine der
älteren Uhren war, hatte diese kein Licht. Langsam tapste sie also ans Fenster, vielleicht würde sie dort etwas mehr Licht haben. Sie stellte sich mit dem Rücken an die Scheibe und begutachtete ihre
Uhr. Es war eine ältere, schlichte, weiße Uhr mit Zeigern und Ziffern, keine Digitaluhr. Vor den sich immer weiter bewegenden Zeigern war eine Glasscheibe, diese reflektierte etwas von dem Licht,
welches durch das Fenster schien. Durch die Scheibe an der Uhr konnte Yume auf die Straße schauen. Sie strengte ihre Augen etwas mehr an und im nächsten Moment stockte ihr Atem. Wieder ummantelte
eine Klaue der Dunkelheit ihr Herz, die Angst schoss wie ein tödliches Gift durch ihre Adern und lies ihr Blut gefrieren. Immer noch starrte das Mädchen steif auf die Uhr welche zwei riesige
Krallenspuren auf der Fensterscheibe reflektierte. Yume wollte schreien, schon wieder, doch sie konnte nicht, ihr Körper war unbeweglich und mit ihrem Körper auch ihre Stimme.
Was war denn nur los mit ihr? Bildete sie sich diese Spuren ein, ebenso wie das Blut oder waren sie wirklich da? Wovon kamen sie? So viele Fragen schossen Yume wie Kanonenkugeln durch den Kopf und
bereiten ihr Schmerzen. Vorsichtig drehte sich das tapfere Mädchen um und erblickte, dieses Mal ganz ohne Spiegeleffekte, die Kratzer auf der Scheibe. Doch das war ihr nicht genug, sie wollte sich
vergewissern, dass dies nicht echt war, also streckte sie langsam ihre linke Hand nach der Scheibe aus. Sie traf das Glas ohne Ton kurz oberhalb der Krallenspuren und wich nun ruckartig vor Angst mit
ihrer Hand die Scheibe hinab. Doch als sie an den Kratzern ankam spürte sie – wider Erwarten – einige Löcher in dieser. Offenbar hatte man sie von außen so stark beschädigt, dass sie an einigen
Stellen schon kleine Risse hatte.
Yume wusste nicht was sie tun sollte, sie hoffe inständig, dass das alles nur Einbildung wäre, doch es schien realer denn je zu sein. In Gedanken versunken und starr vor Angst stand sie nun immer
noch, mit der Hand am Fenster in ihrem Zimmer und grübelte. Sie sah sich immer wieder ich diesem Raum um, wohl um sich zu vergewissern, dass auch niemand anderes hier war.
Wo sollte das nur enden? Blut, Kratzspuren? Was würde als Nächstes kommen? Und wie als hätte jemand diese Frage gehört fiel etwas Schweres aus ihrem Regal und landete geräuschvoll auf dem Boden.
Erschrocken schnellte Yume herum und blickte auf ihr Bett. Da war nichts, also wanderten ihre Augen weiter, bei ihrem Schreibtisch schien auch nichts anders zu sein, sie meinte dort noch alles zu
erkennen. Das einzige Regal war noch links neben ihrem Bett, flink hüpfte sie auf ihre Bett, in dieser Aktion ähnelte sich sowohl von der Bewegung als auch der Lautstärke einer Katze. Yume lag nun
auf dem Bauch in ihrem Bett und blickte sich erneut um. Vor ihr fiel ihr, ihr Tagebuch auf. Anscheinend war es runtergefallen. Das Mädchen streckte die Hand aus und griff an den Umschlag. Sie hob es
hoch und hielt es ins Licht. Vielleicht hatte sie ja gestern noch etwas geschrieben, über das Blut. Sie klappte vorsichtig die erste Seite auf und im nächsten Moment entrann ihrer Kehle ein schriller
Schrei, welcher in Stimmlosigkeit endete. Yumes Augen waren weit aufgerissen, vor ihr lag ihre Tagebuch, welches sie mittlerweile fallengelassen hatte, es lag nun, die erste Seite aufgeschlagen, auf
ihrem Bett. Dort war die Titelseite, das von ihr gemalte Kreuz mit den Worten Sleep and Die. Doch was sie zum Schreien gebracht hatte war nicht ihr Tagebuch, oder die Schrift, es war die Tatsache das
das Wort Die in Flammen stand. Kleien Funken sprühten aus dem Tagebuch und übersäten das Bett mit Brandlöchern. Yumes Angst wurde größer. Sollte das ein Zeichen sein? Die – Das Wort bedeutete Tod auf
Englisch, wollte sie jemand umbringen? Nur wie? Wie hatte dieser jemand es geschafft ihr Tagebuch zu Hälfte zu entzünden, wie hatte es jemand geschafft Blut an ihrem Türgriff zu schmieren? Wie hatte
es dieser jemand geschafft Kratzspuren auf der Fensterscheibe zu hinterlassen?
Wieder überkam sie die Angst, eine Träne rann aus ihren Augen und tropfte in Zeitlupe, gar majestätisch auf die Bettdecke. Sie konnte nicht glauben was gerade alles passiert war. Sie warf sich zurück
in ihre Bett und vergaß sämtliche Angst, denn dieses Gefühl wich der Trauer. In diesem Moment war es ihr egal ob ihr Tagebuch brannte, ob man sie bedrohte, sie war einfach nur zutiefst traurig. Womit
hatte sie das nur verdient? Leise, kaum hörbar schluchzte sie in ihre Kopfkissen. Irgendwann jedoch fielen dem Mädchen die Augen zu und sie schlief wieder ein.
Es war dunkel, kein einziger Strahl Licht existierte. Die komplette Finsternis umarmte diese Welt. Wo war sie hier? Ist das die reale Welt? Warum war es so
finster? Doch da, ein Punkt. Ein heller, weißer Punkt, der schneeweißes Licht spendete. Er schein weit entfernt zu sein, doch sie lief los, auf ihn zu, denn er strahlte eine warme, glückliche
Atmosphäre aus. Der Weg durch die Dunkelheit schien ewig anzudauern, es kam ihr wie etliche Tage vor und trotz all der Anstrengung hatte sie sich diesem Licht noch kein bisschen genährt. War es denn
so weit weg? Und wie konnte sie es dann überhaupt sehen? Was war die Quelle dieses Lichts? Gab es hier noch mehr? Wieder fragte sie sich wo sie hier war, doch wie auch auf die anderen Fragen bekam
sie keine Antwort. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie wohl die einzige hier war. Oder etwa nicht? Ein Schauer lief ihr den Rücken runter. War sie überhaupt hier? Oder war sie selbst nur eine
Einbildung? Langsam versuchte sie ihren Körper zu ertasten, doch die hatte Recht, all das war nicht real. Wo war dann ihr Körper? War das hier ein Traum? Ihr stellten sich so viele Fragen, doch auf
keine bekam sie eine Antwort.
Sie versuchte weiterhin das Licht zu erreichen, doch wieder schaffte sie es nicht. Plötzlich hörte sie eine Stimme wispern: „Hilfe… Hilfe…!“
Diese Stimme kam ihr sehr bekannt vor. War das… Das konnte aber nicht sein. Wenn sie sich jetzt nicht täuschte war das ihre eigene Stimme. Erschrocken versuchte sie weiter zu rennen. Es fühlte sich
sehr seltsam an, etwas zu machen, aber kein Gefühl dafür zu haben.
„Hilfe… Hilfe…!“
Immer und immer wieder ertönte ihre eigene Stimme, doch sie konnte nicht zu ihr. Sie wusste nicht von wo die Stimme kam, sie schien von allen Ecken der Finsternis wieder zu hallen. Wann würde das ein
Ende haben?
Langsam wurde die Lichtquelle kleiner und kleiner, bis nur noch ein winziger Punkt zu sehen war. Ab da ging alles ganz schnell.
Eine blutrote Hand ergriff das Licht und verschwand, ebenso wie das Licht wieder. Ein letztes Mal erklang der Hilferuf und dann war alles endgültig still.
Trauer machte sich in ihre breit, doch sie wusste nicht wieso. Dann löste sich langsam alles vor ihr auf und sie war wach.
War das gerade, real? Yume kratzte sich verwirrt den Kopf und richtete sich auf. War das ein Traum? Ihr Schädel brummte, wahrscheinlich immer noch vor Angst. Doch gerade konnte sie nicht klar denken,
auch die Angst wich der Verwirrung welche das Mädchen vollends überwältigte. Wieso hatte sie gerade nach Hilfe gerufen? Wer war dieses Licht? Dieses bleiche Licht.
Yume war immer noch zu sehr verwirrt um nachzudenken. Doch da fielen ihr die Kratzspuren wieder ein. Vielleicht sollte sie dass ihrer Mutter zeigen. Oder auch nicht? Ihre Reaktion war klar, sie würde
sagen dass sie sich das alles nur einbilden würde, aber… Wenn sie es ihrer Mutter zeigen würde? Mittlerweile war es schon etwas heller, sie blickte von ihrem Bett aus auf den Wecker und nickte. Es
war schon neun Uhr, das hieß ihre Mutter hatte sie nicht geweckt um in die Schule zu gehen. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass sie zu Hause war und nicht einkaufen gegangen wäre.
Schnell sprang Yume aus dem Bett, streifte sich einen Pullover über, zog sich Socken an und blickte erneut auf ihr Tagebuch. Sie hielt einen Moment inne und betrachtete das verbrannte Wort, welches
Tod bedeutete.
Ein Schauder lief ihr den Rücken herab als sie es sah, doch sie packte sich am Riemen und drehte sich einfach um. Sie musste jetzt schleunigst nach unten ihrer Mutter Bescheid geben.
Yume verließ das Zimmer und schlich auf die Treppe zu. Die Schlafzimmertür stand offen, innen war niemand, entweder war ihre Mama unten oder nicht im Haus. Aus dem Fenster konnte sie sehen das Papas
Auto schon weg war, wahrscheinlich musste er heute etwas früher weg. Von unten kamen keine Geräusche, was allerdings nichts zu sagen hatte, denn ihre Mutter konnte oftmals auf der Couch sitzen und
ohne einen Ton von sich zu geben lesen. Nicht mal das blättern der Seiten war dann zu hören, so leise war sie.
Das Mädchen hatte die erste Treppenstufe erreicht und begann nun langsam hinunterzulaufen, wo hoffentlich ihre Mutter schon auf sie warten würde. Unten angekommen drehte sie sich um und erblickte das
Wohnzimmer. Hier war es taghell, Licht brannte und alle Rollläden waren hoch gefahren. Auf der Couch saß, wie erwartet, ihre Mutter mit einem Buch in der Hand. Ihre Füße hatte sie entspannt auf den
niedrigen Tisch gelegt, der Fernseher gegenüber war ausgeschaltet.
„Guten Morgen meine Kleine“, begrüßte ihre Mutter sie freundlich. „Hast du gut geschlafen, geht es dir schon etwas besser?“
Etwas irritiert antwortete Yume dass sie gut geschlafen habe, und dass sie sich nicht mehr so schlecht fühle, sie wolle einzig und allein etwas trinken. Als sie das gesagt hatte stand ihre Mutter auf
und ging in die Küche. Aus der Entfernung hörte Yume nun wie sie ein Glas aus dem Schrank holte.
Mama war heute ungewöhnlich fröhlich, normal würde sie sagen, na dann hol dir mal etwas. Vielleicht war sie heute ja besonders gut gelaunt, das Mädchen wusste es nicht. Doch es war ihr auch
egal.
„Mama?“, fragte sie nun.
„Was ist denn Schatz?“, erwiderte ihre Mutter schnell.
„Kannst du bitte mal mit hoch in mein Zimmer kommen? Irgendetwas stimmt nicht, dort sind solche Risse in der Fensterscheibe.“
Yume erwähnte bewusst nicht, dass sie glaubte es seien Kratzspuren, sie wollte diesen Tag nicht mit ihrer komischen Fantasie zerstören.
„Natürlich, geh schon mal hoch, ich komme gleich.“ Ertönte es aus der Küche.
Das Mädchen nickte, war sie zwar bewusst, dass ihre Mutter es nicht sah, aber trotzdem wusste sie auch nichts Besseres.
Also lief Yume die Treppe wieder hoch und ging auf ihre Zimmer zu. Die Tür war angelehnt, aber nicht zu. Geistesabwesend, mit den Gedanken noch bei den Kratzspuren öffnete sie die Tür und trat ein.
Sie betrachtete das Fenster und konnte nicht glauben was sie da sah.
Das Fenster war wieder komplett normal, keine Risse, gar nichts. Was war denn hier nur los? Und noch schlimmer – wie sollte sie das ihrer Mutter erklären?