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Kapitel VII
Brennendes Blut
Die Zeit soll alle Wunden heilen, doch die Erinnerung ist der größte Schmerz.

Verwirrt blickte Yume in ein grünes Paar, leuchtender Augen, die sie
freundlich anstarrten.
„Erkennst du mich denn nicht meine Kleine?“, fragte das Wesen
überrascht und lächelte ihr versichernd zu. Sie schien wirklich sehr nett zu sein.
Jedoch fiel Yume erst jetzt ihre Hautfarbe auf. Sie war blau.
Vollkommen blau. Ansonsten trug sie eine braune Weste, eine braune kurze Hose und hatte lange, schwarze Haare, die zu einem Zopf zusammengebunden waren. Jetzt erinnerte sich das kleine Mädchen und
ihr Gesichtsausdruck wechselte schlagartig.
„Lunea!“, keuchte sie überrascht. Ihr blaue Haut leuchtete durch de
dunkle Nacht und spendete den Beiden auf eine seltsame Art und Weise ein angenehmes Licht.
„Also kennst du mich doch noch“, erwiderte die Frau erleichtert und
legte einen Arm auf Yumes Schulter, als würden sich die Beiden schon lange kennen.
„Groß bist du geworden, dabei ist unser letztes Treffen nicht lange
her“, murmelte Lunea vor sich hin, „Sag, hast du meine Nachricht bekommen?“ Den letzten Satz fragte sie wieder deutlich, an Yume gerichtet.
„Sie meinen den Zettel?“, fragte sie und runzelte die Stirn, „Ja er
lag auf dem Küchentisch.“
Lunea begann zu lachen. Anscheinend freute sie sich, dass das Mädchen
ihre kleine Nachricht erhalten hatte. Doch sofort darauf wurde ihre Mine todernst und sie blickte mit ihren grünen Augen, durchbohrend auf Yume herab.
„Wieso bist du hier?“, fragte die Frau, plötzlich mit einem sehr
scharfen Unterton, bei dem das Mädchen unwillkürlich zusammenzuckte. Was sollte sie sagen? Sollte sie lügen, oder sollte sie Lunea die Wahrheit über ihre Entführung erzählen. Vielleicht kannte sie
Caída ja, sie war auch so ein… Wesen.
Angespannt holte sie Luft und begann zu sprechen: „Ich wurde von zu
Hause entführt.“
Bei diesem Worten lief ihr ein Schauder über den Rücken und
automatisch wurde die ganze Luft aus ihren Lungen gepresst, sie hatte ihr Stimme wieder nicht unter Kontrolle. In den Erinnerungen an den Morgen ,an dem der Vampir in ihr Heim eingedrungen war,
fühlte sie sich nicht wohl, die Angst überkam sie wie eine blutrote Flutwelle jedes Mal aufs Neue, doch um Lunea die Wahrheit zu offenbaren, versuchte sie sich zu überwinden und tiefer in ihre
dunklen Gedanken und Erinnerungen zu tauchen und jede kleinste Information aus sich raus zu holen. Sie versuchte sein Gesicht bis auf jedes kleinste Detail vor ihr inneres Auge zu schieben, um den
Vampir möglichst gut beschreiben zu können, selbst wenn es sie alles an Überwindung kostete. Sie winselte vor Angst, diese Erinnerungen, wie Caída in ihr Zimmer eingedrungen war und sie angegriffen
hatte, machte sie wahnsinnig. Das war genug! Yume stoppte ab und zog sich aus ihren Erinnerungen zurück. Sie schluckte und berichtete Lunea von dem Vorfall. Nach jedem Satz wurde die Besorgnis in dem
Gesicht der Blauhäutigen größer und deutlicher und das Mädchen spürte regelrecht das Mitgefühl, dass die Frau ihr entgegenbrachte. Sie musste sich eingestehen, dass sie froh war, dass Lunea hier war.
Vielleicht könnte sie sogar noch einige ihrer Fragen beantworten.
Als Yume Caída erwähnte und beschrieb zuckte die Frau zusammen. Allein
schon beim Namen zeigte sich ein Hauch von Furcht auf ihrem Gesicht, doch sie versuchte dieses Gefühl zu unterdrücken, das kleine Mädchen machte sie schon genug Sorgen. Nachdem sie fertig erzählte
hatte atmete sie kurz auf und stellte Lunea eine einfach zu beantworten Frage, es würde sie jedoch sehr viel Überwindung kosten, das Einfache zu bewältigen.
„Kennen Sie Caída?“, fragte Yume zurückhaltend. Anscheinend machte sie
sich keine großen Hoffnungen.
Nach einem kurzen Moment der Stille seufzte Lunea und holte tief Luft,
bevor sie ihre Stimme anlegte um dem Mädchen zu antworten.
„Ich kenne ihn. Er ist ein böses Wesen…“, murmelte die Frau und schon
wieder zeigte sie eine Spur Furcht in der Tiefe ihrer smaragdgrünen Augen. Eine Hand voll Tränen schossen in ihre Augen und sie begann zu weinen. Erst schluchzte sie nur ein bisschen vor sich hin,
doch als Yume ihr ihre Hand auf den Rücken legte ergoss Lunea ihrer Tränen vollends auf dem Waldboden.
Es war eine laue Sommernacht als ich geboren
wurde. Meine Mutter erwartete mich schon viel zu lange, also haben mich die Heiler des Stammes aus ihrem Bauch geschnitten. Es waren höllische Schmerzen die sie durchstehen musste, doch sie tat es
für ihre Tochter, für mich. Die Tatsache, dass ich in einer Vollmondnacht geboren war, schenkte mir den Namen Lunea. Ich war glücklich, all die Jahre, doch irgendwann war der Abschied nahe, der
Abschied von meiner Mutter. Ich war nun alt genug um von zu Hause weg zu gehen und unseren Stamm im Krieg zu unterstützen. Doch es kam alles anders.
Am Abend meines Aufbruches saßen meine Mutter und ich ein letztes Mal zusammen am Lagerfeuer und sie erzählte mir die Geschichte meiner Geburt. Sie erzählte mir, wie sie etliche Stunden auf dem Boden
gelegen hatte, mit einem aufgeschnittenen Bauch, nur damit ich das Licht des Lebens erblicken durfte. Wir tauschten noch lange Geschichten aus und es wurde schneller dunkel als erwartet. Wir wollten
das Feuer gerade ersticken und uns verabschieden, als uns plötzlich ein ohrenbetäubendes Pfeifen umgab. Wir hielten uns die Ohren zu, doch es schien kein Entkommen vor dem Klang zu geben. Kurz
darauf, der Ton hielt an, wurde es wärmer und wärmer. Wir begannen zu schwitzen und keuchen, jedoch half es alles nichts. Und dann kam es. Dieses wahnsinnige, verrückte und schrille Lachen. Es
schallte über die ganze Steppe und schallte von allen Seiten wieder, wie als wären wir in einem einzigen kleinen Raum. Das Lachen wurde immer lauter und lauter und unsere Ohren waren kurz davor zu
platzen, da tauchte er auf. Er trat aus dem Lagerfeuer. Seinen Blick hatte er auf meine Mutter gerichtet. Das Feuer umgab ihn noch, jedoch war es gewachsen und strahlte einen rot-orangenen Strahl in
den Himmel. Was auch immer diese Kreatur war, sie war böse, vom Scheitel bis zur Sohle. Seine Gesichtszüge waren durch den Rauch und die vielen Funken nur bedingt zu erkennen, doch was ich sah
verschreckte mich. Seine Züge waren spitz, kantig und sein Blick schien als könnte er töten. Das schaurige Bild der Geburt eines Teufels brannte sich für immer in meine Erinnerungen ein, untermalt
von dem schrillen Lachen und dem hohen Pfeifen. Die Kreatur trat aus dem Feuer heraus, sein Körper brennte noch etwas, doch es schien ihn nicht zu schmerzen. Nichts schien ihn zu kümmern, sein Blick
war verankert, verankert mit den Augen meiner Mutter.
„Caída!“, hatte ich sie flüstern gehört, doch dann war es schon zu spät. Er war auf sie zugeschnellt, hatte seine weißen, glitzernden Krallen in ihren Oberkörper geschlagen und sie mit einem einzigen
Stoß seiner Arme, zu Boden geworfen. Ich habe geschrien, als ich sah wie viel Blut aus dem Rumpf meiner Mutter floss, doch dieses teuflische Wesen hatte mich nicht gehört oder beachtet. Mengen an
dunkelroter Flüssigkeit spritzen über die große Fläche und sprenkelten seinen pechschwarzen Körper mit blutigen Flecken. Es hätte genau so gut mich anfallen können, doch es war an meiner Mutter
interessiert. Wieder stürzte er sich auf sie und ihr hörte ihren verzweifelten Todesschrei, als seine langen Krallen sich mit einem leisen Knacken durch ihre Rippenknochen bohrten und ihr Herz
aufspießten. Augenblicklich schwand das Licht aus ihren Augen, ihr Herz war ihr Lebenselixier gewesen und ohne auch nur eine einzige Chance auf Überleben zu haben, wurde sie diesem Elixier beraut und
ermordet. Ich schrie, rannte auf ihn zu und wollte ihn schlagen, doch das kümmerte ihn wenig. Seine wahnsinnigen Augen ruhten immer noch auf den leblosen Pupillen meiner toten Mutter. Was war das nur
für ein krankes Wesen?
Erst dann hatte er mich bemerkt und drehte sie in einer flüssigen Bewegung in meine Richtung. Er sah tief in meiner Augen und sofort begann das Pfeifen in meinem Kopf lauter und höher zu klingen. Ich
hatte das Gefühl als würde mein Kopf platzen. Ich versuchte sein Gesicht besser zu erkennen und erstarrte, als ihr diese zwei langen, spitzen, weiß glitzernde Zähne sah. Dieses Wesen war ein
Vampir!
Er hatte gerade seinen Arm gehoben um auch mich aufzuschlitzen und einen grausamen zweiten Mord zu begehen, mit dem selben Motiv seiner vorherigen Tat, doch bevor es soweit kam hörte ich das
galoppieren eines Pferdes. Es war nicht nur eins, es waren viele. Ich drehte mich um und entdeckte eine Horde von Pferden auf denen Krieger mit Pfeil, Bogen und brennenden Speeren saßen. Als der
Vampir die Armee erblickte weiteten sich seine Pupillen und ein lauter Knall ereignete sich. Er war verschwunden, das einzige was ich in der Ferne glaubte zu erkennen war eine kleine Fledermaus die
gen Himmel davonflog, für unser Gleichen unerreichbar. Einen Moment lang atmete ich nicht, dachte ich nicht, sogar mein Herz setzte aus, bis ich begriffen hatte, was gerade passiert war. Dieser
Vampir hatte meine Mutter ermordet.
Die Erinnerungen an dieses Ereignis waren zu schlimm um sie weiter zu
erklären und als Lunea ihre Erzählung über den Tod ihrer Mutter beendet hatte begann sie wieder zu weinen. Sie schrie vor Leid und Yume weinte mit ihr. So etwas Schlimmes hatte sie noch nie gehört.
Mit ansehen zu müssen wie die eigene Mutter von einem Vampir getötet wird, das war doch nicht normal. Doch trotzdem musste das Mädchen der Frau noch eine weitere Frage stellen, sie musste es einfach
wissen.
„Wo passierte das?“, flüsterte Yume und umarmte die verzweifelte Frau
gleichzeitig. Die Zeit soll alle Wunden heilen, doch Erinnerung ist der größte Schmerz.
„Fuykai. Auf einer Insel im Osten.“
„Was? Wovon reden Sie?“, fragte das kleine Mädchen verwirrt. Dieses
Land oder diese Stadt kannte sie nicht, doch Lunea musste Lächeln. Musste sie… Fuykai etwa kennen?
„Stimmt, du kennst die ewige Eiswelt ja noch nicht“, murmelte die
Frau, mehr vor sich selbst, als an Yume gerichtet und stand wieder auf, „Also gut, dann brechen wir mal auf, nicht, dass Caída uns wieder findet. Wir wollen doch nicht gebissen
werden.“
Plötzlich wurde Yume blass. Blasser als noch vorher. Vampire beißen
und Caída war ein Vampir. Vampire altern und wachsen schneller… Sie war ein Vampir. Panik breitete sich in ihr aus.
„Lunea! Caída hat mich gebissen!“, brüllte Yume. Tränen stiegen ihr in
die Augen, sie hatte es zugegeben, sich eigestanden und sie wusste, dass sie Recht hatte. Sie war dabei sich in einen Vampir zu verwandeln. Deswegen war sie so schnell gewachsen, deswegen fühlte sie
sich so verantwortungsvoll, nach Menschenjahren ist war sie bestimmt schon zehn. Wenn das so weiter ginge wäre sie bald erwachsen, so konnte das doch nicht weitergehen. Sie hatte eine Kindheit und
das sollte sie nun verlieren, weil sie von einem Vampir gebissen wurde.
„Was!?“, fragte Lunea rhetorisch und drehte sie zu dem kleinen Mädchen
um, „Warum sagst du mir das erst jetzt? Dein Leben steht auf dem Spiel!“
Wenn sie noch etwas warten würden, wäre sie schon bald erwachsen und
in Windeseile wäre sie schon eine Oma. Wenn der Prozess der Verwandlung länger als ihr Menschen leben dauerte, dann würde sie sterben. Vampire können nicht sterben, aber wenn sie noch kein
vollwertiger Vampir wäre, wenn sie kurz vor dem menschlichen Tod ankommt, würde sie sterben.
„Komm sofort mit, spring auf meinen Rücken, wir müssen dich schnell
nach Fuykai bringen!“, brüllte Lunea und reichte dem Mädchen die Hand. Sie wusste gar nicht wie ihr geschah und starrte perplex auf die blaue Hand, die ihr entgegengestreckt wurde. Lunea konnte nicht
warten, sie nahm Yume an der Hüfte und setzte sie auf ihre Rücken.
„Halt dich fest und schrei nicht, wir dürfen keine Aufmerksamkeit
erregen!“, wies die Frau sie ein, und bevor das Mädchen diese Aufforderung mit einem Nicken oder einem ‘Ja‘ bestätigen konnte, rannte Lunea schon los, ohne Rücksicht auf Verluste. Ihre Beine mussten
überzogen von Wunden sein, wegen den vielen Dornen und ihre Füße ein einziges kleines Schlachtfeld, da sie keine Schuhe trug, doch das war ihr alles egal. Sie wollte Yume retten und die Schmerzen,
die damit auftraten, waren nur zweitrangig.
Lunea lief sehr schnell und schon bald hatten sie den Wald verlassen.
Yume war schwindelig, ihr Magen schien sich mehrmals überschlagen zu haben. Ihr Kopf dröhnte und ihre Gliedmaßen schmerzten. Den Wald hatten sie hinter sich gelassen, vor kurzem erst waren sie auf
dieser großen Wiese angekommen. Lunea hatte einen Weg am Waldrand in Richtung Westen eingeschlagen, wahrscheinlich um unentdeckt zu bleiben. In der Ferne meinte das Mädchen das künstliche Licht von
Straßenlaternen zu erkennen, war das ihr zu Hause? Sie wollte die Frau, die sie trug eigentlich fragen, doch sie wollte sie auch nicht ablenken und so unterlies sie das lieber. Sie war eh schon zu
sehr beeindruckt von der Kraft die Lunea aufbrachte. Sie trug das Mädchen und rannte dabei noch in einem Tempo, in dem Yume nicht mal ohne jemanden auf dem Rücken laufen konnte. Was auch immer für
eine Art von Wesen sie war, diese Rasse musste unglaubliche Muskeln haben.
Plötzlich stoppte sie abrupt und setzte Yume vorsichtig ab. Die Beiden
standen auf einem langen, matschigen Weg den Lunea die ganze Zeit entlang gerannt war.
„Wir machen hier Rast, morgen in der Frühe laufen wir weiter. Es ist
bestimmt schon Mitternacht und ich bin sehr erschöpft. Tut mir Leid, meine Kleine“, meinte die Frau mitfühlend und streichelte dem Mädchen liebevoll über die Wange.
„Lunea?“, begann Yume und hob ihre Stimme ein Wenig, „Wo laufen wir
hin?“ Das war eine Frage die ihr schon seit dem Loslaufen auf der Zunge lag, doch die Übelkeit und der Schwindel, der nun etwas abgeebbt hatte, hatte sie daran gehindert, die Frau zu
fragen.
„Zu dir nach Hause, meine Liebe“, erwiderte Yume und lächelte sie
freudig an.
Das Mädchen runzelte die Stirn. „Hatten sie nicht gesagt wir gehen
nach… Fuykai?“, fragte sie und blickte Lunea nun wissensbedürftig in die Augen.
„Aber Yume, ich habe doch gesagt wir gehen nach Fuykai. Zu dir nach
Hause.“
Wollte sie einen Spaß mit ihr treiben? Fuykai war doch ein Land oder
eine Stadt, das konnte noch niemals bei ihr zu Hause sein, das wüsste sie doch.
„Meinen Sie in der Umgebung oder meinen sie wirklich in unserem
Haus?“, fragte das Mädchen misstrauisch und stocherte weiter nach.
„Na in deinem Zimmer du Dussel, du weißt aber auch wirklich gar
nichts“, spottete Lunea und begann zu kichern. Yume hingegen fand das gar nicht lustig. In ihrem Zimmer sollte ein ganzes Land liegen?
„Kleines, Fuykai ist eine ganze Welt, kein Land“, erzählte die Frau,
als konnte sie ihre Gedanken lesen, „Du solltest jetzt schlafen, damit du morgen fit bist. Ich werde mich auch aufs Ohr hauen. Gute Nacht meine Kleine!“ Lunea streichelte Yume über den Kopf, und
legte sie an den Waldrand, neben dem Weg, auf eine Stelle von Moss und schloss die Augen.
„Gute Nacht, Lunea“, flüsterte Yume und legte sich neben sie. Geplagt
von Gedanken an ihre seltsamen Aussagen, schaffte sie es irgendwann doch in einen sanften Schlaf zu fallen und neue Kräfte zu sammeln.
„Wo ist das Mädchen?“ Eine scharfe Stimme schallte durch die Bäume und
schnitt Caída bildlich die Kehle auf.
„Sie ist bei dem Ariska. Keine Sorge, wir werden sie noch finden“,
flüsterte der Vampir und blickte in die blutorten Augen, die Gegenüber von ihm durch die Dunkelheit leuchteten.
„Das will ich hoffen, Bruderherz, das will ich hoffen… Für
dich!“
