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Kapitel IX
Tode und Tore


Wie ist die Welt so stille,
Und in der Dämmrung Hülle
So traulich und so hold!
Als eine stille Kammer,
Wo ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt.
Max Cruse

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„Sieh an, die Ariska ist also nicht alleine unterwegs“, lachte Caída boshaft auf. Der Vampir war so eben aus dem Gebüsch hervor geschlichen und lief jetzt auf Yume zu, die zitternd vor dem leblosen Körper einer Frau stand, die sie bis eben noch beschützt hatte. Einer aus der Gruppe hatte Lunea angegriffen, ob sie noch lebte, wusste das Mädchen nicht, nur war ihr bewusst, dass sie nun auf sie allein gestellt war. Innerlich lachte sie verzweifelt auf: Ein kleines Mädchen sollte gegen eine wilde Horde von Blutsaugern antreten. Der Gedanke war einfach nur lächerlich, sie wusste, dass sie keine Chance hatte. Doch was sollte sie anderes tun? Versuchen Lunea aufzuwecken? Und wenn sie schon tot war? Dann wäre alles umsonst und Caída und seine Anhänger hätten genug Zeit auch sie in den Himmel zu geleiten. 
„Lass sie in Ruhe, Caída! Weißt du denn nicht in wessen Gegenwart du dich hier befindest?“, bellte eine etwas hellere, femininere Stimme. Sie war rau und dennoch hoch und mit wunderschönem Klang versehen. Trotz allem waren die Kälte und der Befehlston, den sie an den Tag legte, nicht zu überhören. Sie schien ein weiblicher Vampir zu sein. Wie konnte denn eine Frau einem starken Mann wie Caída etwas befehlen?
„Sie ist noch wichtig!“, brüllte sie ihn an und wendete ihm sogleich demonstrativ den Rücken zu. Anscheinend hatte sie hier mehr zu sagen, als Caída. Wer war sie nur?
„Acroa, ich bitte dich, wir müssen…“, versuchte Caída mit der Frau zu reden, doch ehe er seine Forderungen beenden konnte, unterbrach ihn ein anderer Vampir, der bis jetzt noch nichts gesagt hatte. 
„Caída, wenn sie es sagt, haben wir ihr zu gehorchen!“ Der Vampir der Yume entführt hatte winkte nur ab und schüttelte verständnislos den Kopf, während er qualvoll langsam auf sie zulief und sie mit seinem Blick durbohrte, als wolle er sie so umbringen. Doch sie wusste, dass er es nicht tun würde. Diese Frau war ihm über, sie kontrollierte ihn und damit jede seiner Handlungen. Mit einem kleinen Ruf könnte sie ihn sofort zurückholen. Wer war diese Frau nur und wie kam es, dass sie so eine hohe Autorität hatte?
„Lasst mich in Ruhe!“, brüllte Yume, ihre Stimme klang weitaus tiefer als sonst. Das musste der Alterungsprozess sein, von dem Lunea gesprochen hatte. Warum musste das alles nur ihr passieren? Sie war ein ganz normales Mädchen und nun war sie auf dem Weg ein Vampir zu werden, wenn eben diese sie vorher nicht abschlachten würden, wie sie es mit Luneas Mutter und mit Lunea getan hatten.
Angriffslustig blitzen Caídas Augen auf und ohne zu zögern – oder zu wissen wieso – griff Yume nach einem der Schwerter die sich vor dem leblosen Körper zu ihren Füßen befanden. Es schien eine Art Reflex zu sein, oder etwas anderes Derartiges. Das Adrenalin schoss durch ihre, mittlerweile recht schwach mit Blut benetzten Adern und all ihre Kraft schien sich in ihrer Hand zu bündeln und sich dadurch wie von selbst auf die silberne Klinge zu übertragen. Diese schien sich wohl selbstständig zu machen, denn ohne, dass Yume es gewollt hatte, schoss die silberne Schneide mit der Spitze voraus direkt auf ihren Gegenüber zu, den Vampir der sich gebissen hatte, und stoppte bedrohlich kurz vor dessen Rumpf. Ein Schreck durchfuhr den Mörder und für einen Moment herrschte Stille am Waldrand, auch Yume wagte es nicht auch nur einen Ton zu sagen. Ihren Atem hatte sie angehalten, doch es würde nicht mehr lange dauern, bis sie wieder Luft holen müsste. Angst stieg in ihr auf, was wenn Caída jetzt angreifen würde? Oder wenn sie alle angreifen würden? Sie müsste sich und Lunea verteidigen, das war ihre einzige Chance, wenngleich die Horde von Vampiren noch keinen Zug getan hatte. Sie waren klar in der Überzahl, es waren um die sieben Stück seiner Sorte und allesamt hatten sie ihren Blick auf Yume und Caída gerichtet, die sich Beide noch angespannt wie eh und je gegenüberstanden und die Stille aufrecht erhielten. 
Da schoss Yume ein Gedanke durch den Kopf! Wenn sie das tun würde hätte sie vielleicht noch eine Chance… Allerdings könnte es auch ihr Ende bedeuten. Sie müsste… Doch ohne weiter zu überlegen unterbrach sie den Gedankenschwall und mit einem hasserfüllten, siegessicheren Schrei bohrte sie das Schwert in Caídas Rumpf herein. Ein weiterer, greller und markerschütternder Schrei schallte über den Weg am Waldrand und der stattlich gebaute Körper des Vampirs sackte kraftlos in sich zusammen. Blut spritze aus seinem Bauch und verteilte sich auf dem sandigen Boden, in dem der Vampir nun mit schmerzerfülltem Ausdruck kniete, seine Pupillen waren in verschiedene Richtungen gedreht und seine rote Iris färbte sich angsteinflößend violett. Yumes Haut hingegen wurde immer blasser, ihre Kraft wich der Angst, was würde wohl als nächstes passieren? Wenn die anderen Blutsauger sie angreifen würden, bräuchte sie gar nicht erst versuchen sich zu wehren, diesen Kampf würde sie nicht siegreich beenden. Ihre einzige Chance war es zu Rennen. Weit, weit weg zu rennen, selbst wenn sie dann Lunea hier lassen müsste. Aber ihr Leben war wichtig, zumindest dachte sie so. 
Jedoch… - Vielleicht sollte sie lieber warten, ob überhaupt etwas passieren würde, wer wusste das schon? Vielleicht hatte sie sich mit diesem Angriff Respekt verdient? Es bestand zwar nur eine kleine Chance, aber auf diese musste sie hoffen. Um ihre Übermacht zu beweisen zog sie das Schwert quälend aus dem Körper ihres Gegenübers und streckte es eindrucksvoll gen Himmel, von wo das Blut vor ihre Füße hinab tropfte und dort in den Boden sickerte und den Sand mit roter Farbe tränkte. Zu ihrem Haupt lag der erschlaffte Körper von Caída, welcher ohne eine Regung, mit einer großen, blutenden Bauchwunde, vor sich hin verblutete und darauf wartete, erlöst zu werden. Es kehrte wieder Stille ein, genau wie zuvor, als Yume ihn noch nicht getötet hatte. 
„Du hast meinen Bruder umgebracht!“, fauchte die Frau wütend, „Wir werden uns wiedersehen, darauf kannst du all das Gift dieser Welt nehmen, meine kleine Yume!“ 
Woher kannte sie ihren Namen? War Caída etwa ihr Burder, so wie sie es gesagt hatte? Zu viele Fragen gingen ihr durch den Kopf, alle kreisten sie um das Geschehene und Caída. Sie hatte ihn getötet. Yume hatte… getötet. Wie konnte sie nur? Mit starrem Blick in die Ferne, in dessen Richtung die Vampire in diesem Moment verschwanden, stand sie da und ließ kraftlos das Schwert fallen, welches sie so eben noch in Richtung Himmel gestreckte hatte. Es fiel bedrohlich knapp neben den toten Körper von Caída, er hatte so eben aufgehört zu atmen und sich nun dem Tod ergeben. Yume meinte erkennen zu können, wie seine Seele aus seinem Körper wich und diese leblose Hülle hier zurück ließ, nur um das Mädchen damit zu quälen. Ihre Seele wollte sich ebenfalls verabschieden, sich in tausenden von kleinen Gegenständen verteilen und sich zu splittern, genau wie ihr Herz, welches diesen Prozess soeben durchgemacht hatte. Die pure Angst lag in ihren Augen!

Es war noch recht früh am Morgen, richtig hell war es auch noch nicht, sodass Yume den Mond noch sehen konnte. Der runde Ball am Himmel beleuchtete den Weg mit seinem milchig weißen Licht und schaffte eine düstere Atmosphäre, wenngleich die Sonne ihn bald vertreiben würde. Es war ein ewiger Krieg beider Elemte, sowohl die glühende, runde Scheibe von der die Menschheit seit ihrer Existenz sprach, als auch der blasse, weiße Mond, der seit eh und je für eine Gravitation im Meer sorgte, die sich Gezeiten nannte. Ebbe und Flut…

Vorsichtig beugte Yume sich über den bewegungslosen, blauen Körper, der bis eben noch eine wenige Schritte hinter ihr lag. Sie war auf ihn zugelaufen, begleitet wurde sie von der salzigen Tränenflüssigkeit, die mit demselben Geschmack wie Meereswasser, aus ihren Augen quoll und sie verlies, so wie Lunea sie verlassen hatte. Oder bestand noch Hoffnung? War es möglich, dass ihre Begleiterin und Beschützerin noch lebte?
Verzweifelt legte Yume ihre Hand auf die Stirn der Frau, sie fühlte sich warm an, wie als würde ein feuriges Fieber in ihrem Körper toben. Mit ihrer Hand wanderte das Mädchen hinab, bis sie an den ersten Rippenknochen ankam. Sie versuchte sich zu konzentrieren, ihren Plusschlag zu fühlen, doch sie könnte weder etwas hören, noch spüren. Vielleicht war es doch schon vorbei und sie war tot. Doch da, nur ganz leise, meinte Yume ein unrhythmisches Klopfen zu hören, fast wie ein… Herzschlag! Aufgeregt legte das Mädchen in einer ruckartigen Bewegung ihren Kopf auf ihre Brust, mit dem Ohr auf die Rippen, wo sie ihr Herz vermutete. Bei ihrer Art von Lebewesen konnte sie zwar nicht sicher sein, aber warum sollte es anders als bei einem Mensch sein? Da war es wieder! Es klang nur schwach, aber dennoch war es zu hören. Lunea lebte noch! Nur wie sollte Yume sie wieder aufwecken? 
Nachdenklich starrte das Mädchen in dem Mond, ihre Gedanken waren bei der blauhäutigen Frau, ihre Angst befand sich in der Zukunft. Die blasse Kugel am Himmel schien sie zu hypnotisieren und ehe sie sich versah, hatte sie ihre Hand wieder auf Luneas Stirn gelegt, wenngleich sie es nicht aus eigenem Willen getan hatte.
„Dera quio necron valtáson mêcòn“, murmelte das Mädchen vor sich hin. Was sollte denn das? Sie wusste nicht mal was diese Worte bedeuteten.



"Opfere deinen Geist."



Ein starker Schmerz durchfuhr Yume wie das Schwert in ihrer Hand Caída durchbohrt hatte. Sie kniff ihre Augen zusammen und ihre freie Hand ballte sie zu einer Faust. Jeder einzelne ihrer Muskeln war komplett angespannt und einzig und allein die Hand auf Luneas Stirn regte sich nicht, sie schien erschlafft zu sein. 

"Öffne dein Herz."



Erneut überkam eine Welle von Schmerzen das Mädchen und ihr kompletter Körper zuckte. Ihre Hand, die auf Luneas Stirn lag, begann milchig weiß zu leuchten und ein Kribbeln ging von ihr aus. Alles was sie in diesem Moment spürte, war das Gefühl des Kribbelns und die unglaublichen Schmerzen, die Yume wieder und wieder durch die Adern fuhren und sie quälten.

"Zeige deine Seele."



Ein weiterer Schwall voller Schmerzen erfasste sie und durchfloss sie wie ein elektronischer Schlag. Ihre Augen wurden von dem Licht geblendet, das von ihrer Hand ausging und sie hielt überrascht die Luft an. Furcht lag in ihren Pupillen und nichts anderes als der Pein in ihrem Körper schien zu existieren. Ihre Wahrnehmung für die Umwelt und ihre Umgebung schwand der Qual die sie erleiden musste. Doch für welchem Preis?

"Schenke dein Leben."



Das Licht, welches von ihrer Hand ausging wurde heller und der komplette Waldrand und seine Umgebung wurden von dem milchig weißen Strahl geflutet. Mit ihm kamen das qualvolle Leiden zurück, welches von Sekunde zu Sekunde an Yume nagte und ihr mit jedem Moment einen weiteren Teil ihrer Lebenskraft auszusaugen schien. Die Kraft der Schmerzen stieg an und sie schrie. Ihre Stimme schallte über den Weg und das anliegende Feld und durchfuhr jedes Lebewesen in der Umgebung als wäre es die Welle einer Aura. In all dem Leiden und Licht meinte Yume ein Stöhnen zu hören. Das Kribbeln in ihrer Hand wurde stärker und mit einem Mal sackte sie zusammen. Ihr blieb die Luft weg, ihr Herz schlug nur noch schwach und unrhythmisch und das letzte was sie hörte, bevor ich schwarz vor Augen wurde, war ein gestöhntes, schwaches „Danke“. 



Sie ist endlich aufgebrochen. Danke… Lunea. Du bist meine einzige Rettung. Es besteht keine große Chance, dass ich frei komme, aber das ist wohl die einzige. Du musst sie hier her bringen, du musst sie zu mir bringen, nur so kann sie mich aus den dunklen Klauen befreien. Selbst wenn sie dafür sterben muss… Das ist ihre Bestimmung. Heile sie von ihrem Biss und zeige ihr die Tore. Durchschreite sie und bilde sie aus. Bring sie hier her und lass sie tun, wofür das Schicksal sie bestimmt hat. Bitte… Lunea. Sie ist meine einzige Rettung. Ohne sie… Es sei denn Prinz Caron kann… Aber es ist nicht sicher. Der nördliche Gebirgszug ist wichtig… Zu wichtig um ihn zu verlieren. Lunea… Reise zurück, kehre mit ihr Heim und rette dein Volk vor dem Untergang, so wie sie mich retten wird. Lehre sie des Kampfes und der Geduld. Lehre sie des Bändigens und der Macht. Ich vertraue dir… Lunea.


Erst war es still, so wie immer, als wäre nichts geschehen. Auf ihr lag die Ruhe ihrer Träume in denen ihr Geist und ihre Seele noch wanderten, ihr Körper hingegen, hatte sich aus dieser Welt bereits verabschiedet. Letztendlich kam jedoch auch ihr elementares Leben zurück an die Oberfläche, geweckt von dem Galoppieren eines Pferdes und dem gleichmäßigen auf und ab Schaukeln, ihres Untergrundes. Verschlafen öffnete Yume die Augen und blickte auf einen mit Narben und Schnitten übersäten, blauen Rücken. Verwirrt rieb sich das Mädchen die Augen und richtete sich langsam auf. Sie saß auf einem Pferd, welches scheinbar ohne Halt einem Ziel entgegen ritt, welches ihr völlig unbekannt war. Um nicht von dem Tier zu fallen hielt sie sich an dem blauen Körper fest, ihr war bewusst, von wem dieser stammte.
Mit einem Ruck drehte sich die Frau rum und entdeckte Yume, welche mit kleinen Augen auf dem Rücken des Pferdes saß und an ihrem fest hielt. 
„Guten Morgen meine Kleine. Hast du gut geschlafen?“, fragte Lunea unbeirrt, als wäre es vollkommener Alltag für sie, auf dem Rücken eines Pferdes aufzuwachen, welches von einem blauen Lebewessen geritten wurde. Sie blickte dem Mädchen erwartungsvoll in die Augen und zügelte mit ihren Füßen das Pferd, welches nach ein paar Schritten stehen blieb und vor Erschöpfung schnaubte. Ohne auf eine Aufforderung zu warten neigte es den Kopf hinab und biss mit seinen großen, weißen Zähnen in einen Grasbüschel. Es war ein wunderschöner Hengst mit braunen Fell und braunen Augen. 
„Ja… Schätze schon“, murmelte das Mädchen geistesabwesend, „Bist du nicht… tot?“ Diese Frage verließ ihren Mund ohne wirklich kontrolliert zu sein, doch Yume wusste, dass sie genau das wissen wollte. Gestern, oder heute, sie wusste es nicht, war Lunea in einen Hinterhalt gelaufen und von einem Vampir namens Caída ermordet worden. Oder?
„Nein, wie du siehst lebe ich noch“, lachte die Frau und blickte sie freudig an, „Du hast mir das Leben gerettet. Weißt du denn nicht mehr?“ Verwirrt sah Yume die Frau an. Während das Mädchen nachdachte, war sie bereits von dem Tier abgestiegen und auf den Boden gesprungen, wo sie sich mit einer eleganten Bewegung abrollte und daraufhin aufgestanden war und sich dem Mädchen gegenüber gestellt hatte. Yume blieb lieber hier sitzen, sie fühlte sie wohl auf dem Hengst.
„Ehrlich gesagt nein, ich kann mich an nichts Derartiges erinnern. Ich kann mich an gar nichts erinnern!“, gab sie zu und sah ihrer Begleiterin beschämt in die Augen. Was war nur passiert, bevor sie eingeschlafen war? Egal was se auch versuchte, sie konnte die vergangenen Erlebnisse von denen die Frau erzählte nicht mehr abrufen.
„Das ist seltsam… Aber gut, ich werde dir erzählen, was heute Morgen passiert ist“, meinte Lunea und machte eine kurze Pause. Sie holte kurz Luft, bevor sie langsam weitersprach. „Wir sind aufgestanden und haben uns an ein Lagerfeuer gesetzt, als ich einige Geräusche bemerkt hatte. Caída und seine Gruppe waren aufgetaucht, doch hinterlistig wie sind nun Mal sind haben sie sich in irgendeinem Gebüsch versteckt. Ich habe dir gesagt, dass du dich verstecken sollst und bin dann mit meinen Schwertern auf das Gebüsch zugerannt, hinter dem ich Caída vermutet habe. Das einzige was ich dann noch gespürt habe, war ein beißender Schmerz an meinem Halsrücken. Ich bin zu Boden gefallen und ohnmächtig geworden. Mehr weiß ich nicht“, beendete Lunea ihre Erzählung.
„Und wie kann es sein, dass du jetzt wieder da bist?“, fragte Yume entgeistert. Die ganze Geschichte klang für sie wie nichts anderes, als Seemannsgarn. Wieso sollte die Frau sie jedoch anlügen?
„Ich weiß nur, dass du irgendeine Kraft verwendet hast, um mich zu heilen.“

Sie ist es, Lunea. Sie ist die Auserwählte. Sie ist das Mädchen, auf welches wir schon so lange warten, wie ihre Rasse auf den Messias. Sie ist es, glaub mir. Sie hat all diese Kräfte und diese Macht nur, weil sie die Cryani ist. Erfülle deine Bestimmung und folge deinem Schicksal. Bitte.

„Du hast diese Kraft… aus dem Mond genommen“, murmelte Lunea und fasste Yume an der Hand, „Was zwischen dem Angriff auf mich und meiner Heilung passiert ist, weißt nur du. Aber das tut nichts zur Sache!“
Lunea schien es plötzlich eilig zu haben, denn von einem Moment auf den anderen war sie in einer flüssigen Bewegung wieder auf das Pferd gesprungen und hatte ihm leicht in die Seiten getreten, sodass dieses sofort begann los zu laufen und schon nach ein paar Metern in einen zügigen Galopp verfiel.
„Wir müssen so schnell wie möglich nach Fuykai!“, rief Lunea und trat ihrem Hengst erneut in die Flanken, worauf dieser sein Tempo noch ein Stück steigerte. 

Der Tag fiel seinem Ende entgegen und die Sonne salutierte dem Mond, der nun seine Aufgabe als Wächter der Nacht übernahm. Mit der Sonne wich auch das helle gelbe Licht, es wurde verdrängt durch das weiße, blasse Licht welches von dem Mond ausging. Es kam von einem Mond. War dies jedoch der einzige Mond? Oder gab es etliche seiner Art, die überall, ob nah oder fern, irgendwo in dieser Galaxie umherzogen? Oder gar in einer anderen Welt?

„Wo sind wir hier?“, fragte Yume schläfrig. Ihre Augen fielen alle paar Schritte zu, doch sie nahm sich zusammen und zwang sich jedes Mal aufs Neue dazu wach zu bleiben.
„Bei dir zu Hause“, antwortete Lunea knapp und als sie in eine Seitengasse einbogen bremste sie ihren Hengst mit einem leichten Stoß in seine Flanke ab. Er blieb stehen und ging ein Stück in die Knie, sodass Yume und Lunea bequem von ihm absteigen konnten. 
„Das hast du gute gemacht!“, meinte die Frau und ehe sich Yume versah, löste sich das Pferd auf und ein kleines, geflügeltes Wesen schwebte gen Himmel davon. Von ihm ging ein seltsames, hellgelbes Leuchten aus, welches das Mädchen auf verschiedenen Ebenen berührte. Sie war wie hypnotisiert von dem Schein dieses Wesen und wenn ihr nicht eingefallen wäre, dass sie mal wieder eine einer völlig absurden Situation war, dann wäre sie wohl für immer in dieser hypnotischen Starre gefangen.
Die Beiden standen in der Straße in der sich auch das Haus von Yumes Eltern befand. Sollte sie nun zurückkehren, nach zwei Tagen? Ihre Eltern waren bestimmt schon seit Tagen auf der Suche nach ihr, wahrscheinlich hatten sie auch schon die Polizei gerufen, um sie ausfindig zu machen. Auf dem steinigen Asphalt der Straße lag, wie schon vor zwei Tagen, eine dicke Schneeschicht, die ihr bis zu den Knöcheln reichte. An beiden Seiten des Weges standen Häuser, allesamt weiß gestrichen, mit Dächern, deren Farbe nur vereinzelt schwach unter der Schneedecke hervortrat. An einigen Stellen an den Bürgersteigen standen Straßenlaternen die dem Weg mattes, gelbes Licht spendeten. Hier war sie zu Hause. 
„Lass uns gehen Yume, schnell!“, meinte Lunea und lief los. Nach ein paar Schritten schon stoppte sie ab und drehte sich auf dem Bürgersteig nach links, wo sie ein großes Haus betrachtete. Durch die Fenster leuchtete kein Licht, die Bewohner dieses Hauses mussten wohl schon schlafen. Yume blieb ebenfalls an dieser Stelle stehen und musterte Lunea, die mit ihrem Blick immer noch starr das Haus zu überprüfen schien. 
„Hier wohnst du, richtig?“, fragte sie ohne das Mädchen dabei auch nur für eine Sekunde anzusehen. Sie sah das Haus an und erkannte, dass die Frau Recht hatte. Das war das Haus ihrer Familie. Lunea lief auf die Eingangstür zu und Yume folgte ihr, jedoch mit einem mulmigen Gefühl. Sie würde Ärger bekommen, sie hatte Angst vor der Reaktion ihrer Eltern. Andererseits war sie wieder zu Hause, das war doch genau das was sie die ganze Zeit wollte. Weg von den Vampiren, weg von dem Wald. In den letzten zwei Tagen wurde sie von einem Vampir gebissen und hatte einen Vampir getötet. Was war nur aus ihr geworden? – Richtig! Sie wurde älter, der Alterungsprozess, von dem Lunea gesprochen hatte. Was würden ihre Eltern sagen? Sie war bestimmt schon vierzehn Jahre alt, zumindest sah sie so aus. Angst lag in ihren Augen, doch es war zu spät, Lunea hatte bereits geklingelt. Wieso klingelte sie? Vor allem: Wieso klingelte sie drei Mal in einem, für Yume unergründlichen, Takt?
Die Tür öffnete sich und was sie dort sah überstieg ihre Vorstellungskraft bei weitem. Es war ein Tier. – Ein lebendiges Tier, das Lunea und Yume soeben die Tür geöffnet hatte. Was sollte das? Und wo waren ihre Eltern? Hatte dieses Tier sie etwas gefressen? Was war das überhaupt für ein Tier? Wieder überkam die Furcht das Mädchen und ummantelte sie wie eine schwarze Kralle der Finsternis die ihr sämtliche Kraft und all den Mut, den sie hatte, aussaugte. 
„Guten Tag Xeria. Freut mich, dich zu sehen“, pfiff Lunea jedoch fröhlich und trat ein. Das Tier, welches sich im Licht der Lampe im Eingang als Wolf entpuppte, setzt sich zutraulich zu den Füßen der Frau und kuschelte sich an ihre Beine. Yume stand nach wie vor auf der Türschwelle, ihr Unterkiefer hing unten, sehr weit unten. 
„Komm herein, ist nun schließlich dein Haus“, brummte der Wolf mit einem Hauch von Trauer in seiner Stimme. Es war doch nicht ihr Haus, oder? Dieses Gebäude gehörte ihren Eltern und niemand anderem. Auch nicht ihr. Was ging hier nur vor? Erst jetzt, nachdem sie die anfänglichen Fragen bei Seite geschoben hatte, schreckte Yume innerlich auf. Wieso konnte dieser Wolf sprechen? War er etwa so eine Art… Werwolf?
„Lass uns schnell machen, ja?“, fragte Lunea den Wolf und Yume, doch sie schien keine Antwort abzuwarten, denn ohne auch nur eine Sekunde inne zu halten, steuerte sie durch das stockfinstere Wohnzimmer auf die Treppe hinzu, welche in das erste Stockwerk führen würde. Yume wusste nicht so recht was sie tun sollte, doch als der Wolf bedrohlich zu Knurren begann setzte sie sich ängstlich in Bewegung und folgte der Silhouette der Frau, dicht gefolgt von dem Vierbeiner, der ihnen die Tür geöffnet hatte, wie, war ihr jedoch immer noch nicht bewusst.
Lunea lief die Treppe hinauf, leichtfüßig wie es schien, Yume hingegen hatte Probleme in der völligen Dunkelheit etwas zu erkennen, weshalb sie fast mit jedem Schritt über eine Stufe stolperte. Der Wolf hinter ihr schien mit einer ähnlichen Leichtigkeit wie die Frau die Treppe zu besteigen und stütze das Mädchen sogar hier und da, sodass sie nicht hinfiel. Oben angekommen klickte Lunea auf einen Lichtschalter und einige helle, gelbliche Strahlen fluteten den Gang mit ihrem Licht. Dies war der Flur, den Yume jeden Tag entlang gelaufen war, denn er führte direkt zu ihrem Zimmer, wohin Lunea auch hinzusteuern schien. Was wollte sie dort nur? 
Das mulmige Gefühl wich mittlerweile einer großen Angst. Vor ihr, ein mächtiges, blaues Lebewesen und hinter ihr ein Wolf, der sprechen konnte und sie wahrscheinlich mit einem Prankenhieb niederstrecken könnte. Wo war sie hier nur hineingeraten? Die Gruppe lief auf die Zimmertür zu und Lunea blieb unmittelbar vor dieser stehen, als sie dort ankam. Sie wartete auf Yume und den Wolf, der offenbar Xeria hieß. Sie nickte dem Tier zu und es griff ohne zu zögern mit einer vorderen Pfote an den Türgriff. Mit einer Leichtigkeit wie Yume sie noch nie gesehen hatte, drückte der Wolf die Klinke runter und die Tür öffnete sich. Ihr Zimmer sah normal aus, genauso wie vorher. Was wollten die Beiden nur hier? 
„Yume, wir werden jetzt nach Fuykai reisen. Ich habe dir bereits von dieser Welt erzählt?“, fragte Lunea, doch sie schien es mehr rhetorisch zu bemerken, denn ohne zu zögern trat sie ein und mit einer lässigen Handbewegung bat sie das Mädchen ihr zu folgen. Mit dem Gewissen, dass hinter ihr ein Tier stand, welches morden würde, um etwas zu fressen zu bekommen, sputete sie sich um so schnell wie möglich in ihr Zimmer zu kommen. Sie kniff die Augen zusammen um erkennen zu können, wo Lunea war. Sie saß auf dem Bett und schien auf die anderen Beiden zu warten. Während Yume sie fragend ansah war Xeria ihnen bereits gefolgt und hatte sie an dem Regal vorbeigedrückt. Sie stand nun unmittelbar neben der blauhäutigen Frau und schien auf eine Bemerkung seitens des Mädchens zu warten. 
„Dann mal los!“, rief der Wolf und ohne Hemmung sprang er auf Yumes Bett zu. Was sollte das? Gebannt beobachtete sie, wie Xeria scheinbar auf dem Bett aufkam, doch anstatt ein Geräusch zu tun, schien es den Wolf durchzulassen. Er tauchte durch eine Art von Portal, welches wohl ihre Ruhestätte war. 
„Jetzt du, meine Kleine“, rief Lunea ihr zu. Yume glaubte ein Lächeln auf ihren Lippen erkennen zu können, doch es war zu dunkel um genaueres zu sagen. In ihr kam Angst hoch, noch mehr als zuvor. Sie wollte einfach nur schreien und wegrennen, doch was würde ihr das bringen? Sie hatte kein zu Hause mehr. Das Mädchen hatte keine andere Wahl als den Befehl der Frau zu befolgen. Sie schluckte einmal und lief dann langsam auf das Bett zu. Sie fasste all ihren Mut zusammen und presste die Hände zu Fäusten zusammen. Ohne weiter nachzudenken, sprang sie, begleitet von einem hohen Schrei. Es fühlte sich an, als würde sie sich auflösen, doch es tat nicht weh. Yume wurde schwarz vor Augen und mit einem Ruck, den sie kaum noch spürte, landete sie auf einer steinigen, harten Oberfläche.


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