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Prolog
Nachtwanderung

 

Seht ihr den Mond dort stehen
er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön
So sind wohl manche Sachen
die wir getrost verlachen
weil unsre' Augen sie nicht sehen
Matthias Claudius
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Es war schon fast Mitternacht, als ein grollendes Poltern ein kleines Mädchen aus dem Schlaf zog. Sie wusste nicht, was das gewesen sein konnte, Angst schoss in ihr hoch. Zitternd richtete sie sich auf und schlich auf ihre geschlossene Zimmertür zu. Ihr Herz schlug schneller, als sie vorsichtig ihr Ohr gegen die Tür hielt und der Stille lauschte. Jetzt war alle der Ton wieder weg, alles war ruhig. Nicht mal das Schnarchen ihrer Eltern war zu hören. Für einen Moment bewegte sich das kleine Mädchen nicht. Der Mond schien durch die Schlitze des Rollladens auf sie. Ihre Haut war blass und weiß, genau wie ihr Schlafanzug. Ihre langen, milchigen Haare fielen bis über die Schultern. Ihr tiefen, blauen Augen wirkten kalt, als wäre sie tot. Sie starrte gebannt auf die Zimmertür, welche immer noch geschlossen war. Sie war nicht besonders groß, und wahrscheinlich auch noch sehr jung. Ihre Hände zitterten, wie als würden sie nicht zu ihr gehören.
Das Mädchen neigte den Kopf herum, sodass sie das Fenster sah, gegenüber dem sie stand. 
Ängstlich bewegte sie ihre Beine und verließ die Nähe der Tür. Das Mädchen schlich auf das Fenster zu und drückte eine Taste, die unter einem kleinen Bildschirm lag, welcher an der Wand hing. Mit einem kleinen Ruck setzte sich der Rollladen in Bewegung und fuhr herauf. Langsam strahlte mehr Licht in ihr Zimmer und tauchte es in eine schaurige Atmosphäre. Als der Rollladen etwa zur Mitte hochgefahren war, konnte sie den Mond sehen. Sie ließ den Knopf los und setzte sich behutsam auf die Bettkante. 
Der Mond durchflutete den Raum mit seinem milchigen Licht. Das Mädchen bewegte sich nicht, sie starrte einfach nur gebannt in das helle Licht des Mondes.
Zum heutigen Tage war er am größten, der Vollmond herrschte über die Menschen. Auch das kleine Mädchen, das an jenem Tage in ihrem Zimmer saß und nicht schlafen konnte, war einer der Menschen, die mit der einmaligen Stärke des Mondes zu kämpfen hatte. Sie saß jeden Monat hellwach auf ihrem Bett, und starrte in den Mond. 
Manchmal kam sie sich vor wie ein Werwolf. Doch sie war nicht so böse und kräftig. Oft wurde sie von ihren Freundinnen als schwach und zerbrechlich bezeichnet. Ängstlich, zu gutmütig. Solche Worte musste sie sich jeden Tag anhören. Nur Nachts, wenn sie schlafen wollte, war sie sicher, da sogar ihre Mutter ihr hier nichts zu sagen hatte. Nachts war sie anders. Sie fühlte sich in der schwarzen, tiefen Dunkelheit wohl, trotz ihrer Angst vor eben dieser.

Das Mädchen stand auf und lief auf ihren Schreibtisch zu. Die Uhr zeigte die Zeit Mitternacht. Genau zu diesem Zeitpunkt fühlte sie sich am wohlsten. Doch auch genau zu dieser Zeit, wurde sie immer so müde, dass selbst der Vollmond sie nicht wach halten konnte. Normalerweise. Doch heute war sie kein bisschen schläfrig. Sie fühlte sich wach, als hätte sie Kaffee getrunken, was sie mit ihren neun Jahren natürlich nicht tun würde. Geistesabwesend schlurfte sie wieder auf das Fenster zu und stemmte ihre Arme auf die Fensterbank. Ihr Kopf lag nun auf ihren Händen, und stützte sich auf ihren Armen.
Verwirrt blickte sie auf die Straße, welche vollkommen eingeschneit war. Das hatte sie gar nicht mitbekommen. Vor kurzer Zeit war doch alles noch normal, und jetzt war alles weiß.
Sie schnappte sich ein kleines Stofftier, das auf der Fensterbank lag und legte sich behutsam auf das Bett. Ihren Kopf legte sie auf den großen Kissen nieder, ihre Beine und den Oberkörper verdeckte sie, mit einer kreidebleichen Decke, die von der Farbe ihrer Haut und dem Schnee glich.
Wieder hörte sie ein Poltern. Ein Schaudern durchfuhr sie. Langsam richtete sie sich auf und lief wieder auf die Zimmertür zu. Ein weiteres Geräusch erreichte ihr Ohr.
Ängstlich überlegte sie, ob sie die Tür öffnen und nachsehen sollte, was gerade passiert, doch sie hatte dazu nicht genug Mut. Ihr Herz schlug wieder schneller, und obwohl sie es wollte, fand sie ihre Hand an der Klinke wieder, gegen ihren Willen. Eigentlich wollte sie umdrehen, sich auf ihr Bett legen, die Augen schließen, und sie dazu zwingen, einzuschlafen, aber etwas hielt sie fest.
Das Mädchen wusste nicht was. Und da war es wieder. Diesmal hörte sie eine Schranktür zufallen und schreckte hoch.
Ungewollt bewegte sich ihre Hand so, dass sich die Tür öffnete. Nun sah sie den Flur, der sich durch das ganze Haus zog und lief zitternd heraus. Als sie ihren linken Fuß aus dem Zimmer heraus in den Gang setzte, hörte sie ein Klirren. Erneut fühlte sie sich, als wäre sie kopfüber in Eiswasser gesprungen. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr, denn sie war schon auf halbem Wege aus dem Zimmer. Vorsichtig schlich sie den Flur entlang. Sie konnte kaum etwas erkennen, alles war dunkel. Vorsichtig streckte sie die Arme aus, damit sie das Geländer der Treppe ertasten konnte.
Ein dumpfes, leises Geräusch verriet ihr, dass sie die Treppe in das Erdgeschoss gefunden hatte. Sie war mit ihrer linken Hand gegen das Geländer gestoßen. Jetzt musste sie darauf hoffen, dass die Stufen nicht knarzten, so wie sonst. Sie wollte nicht entdeckt werden, was auch immer dort unten passierte.
Langsam nahm sie ihren Fuß hoch und tastete mit ihm nach der ersten Stufe. Das Mädchen entdeckte sie und ließ das Bein ruckartig nach unten fallen, so dass es mit einem lauten Grollen auf der Treppe aufprallte. Peinlich berührt drehte sie den Kopf nach hinten, um zu sehen, ob sie jemand gehört hatte. Doch nichts regte sich.
Also lief sie weiter. Sie schaffte es bis zur zweiten, dann bis zur dritten und am Ende sogar bis zur vierten Stufe, auf der sie stehenblieb. Von dort aus konnte sie perfekt in das Wohnzimmer schauen, doch auch dort war niemand.
Das Mädchen lief weiter, sie war bald schon im Erdgeschoss angekommen. Auch als sie unten stand und sich umsah, konnte sie nichts finden. Ihre Mutter und ihr Vater lagen oben in ihrem Bett und schliefen, und ihr großer Bruder war auch nicht da. Wer konnte das dann sein?
Ängstlich tapste das Mädchen in Richtung Küche. Wieder hörte sie etwas. Es klang, als würde jemand eine Schranktür zu werfen. 
Da kam ihr ein schlimmer Gedanken. „Vielleicht ein Einbrecher“, hauchte sie. Angst machte sich in ihr Breit, sie wollte wieder hoch rennen, zu ihren Eltern, sie wecken, aber dafür war es zu spät.
Während sie nachgedacht hatte, hatten sich ihre Füße selbstständig gemacht. Sie stand unmittelbar vor der Küchentür. Sie musste sie nur noch öffnen, dann könnte sie alles sehen. Und jeder könnte sie sehen.
Sie wusste nicht, wer oder was hinter der Tür lauerte, aber sie wollte es unbedingt wissen. Sie war immer sehr neugierig. Doch oft wurde ihr Neugier von ihrer Angst gestoppt. Doch heute sollte das nicht so sein.
Mit einem gezwungen Ruck schnellte ihr rechter Arm an die Türklinke und drückte sie herab.

In der Küche brennte das Licht, alles war hell.
Etwas Licht strömte in das Wohnzimmer und beleuchtete die graue große Couch, die vor einem großen Fernseher stand. In der Küche war alles braun, der Kühlschrank war aus Holz, die Regale und sogar die Verkleidung des ansonsten pechschwarzen Herdes.
Erschrocken drehte sich eine mittelgroße Frau um und blickte dem Mädchen ins Gesicht. Sie hielt ein Glas in der Hand, welches sie fallen ließ, als sie das Mädchen erblickte.
Die Frau hatte sehr lange Beine und einen nicht ganz so langen Körper, ähnlich wie ein Model. Sie trug einen zerrissen Mantel und hohe Fellstiefel. Ihr Gesicht hatte einen bläulichen Ton und ihre Augen hatten keine Pupille. Ein Schreck durchfuhr das Mädchen, als sie diese sah.
Ihre Haare waren knallrot, auch sehr ungewöhnlich. Durch ihre roten Lippen konnte man scharfe, spitze, glänzende Zähne erkennen. Ihr Fingernägel ähnelten Krallen, als wäre sie ein Wolf.
„Mein Gott, wer sind sie denn?“, fragte das Mädchen kleinlaut.
Sie wollte eigentlich wegrennen, aber irgendwas hielt sie fest. Vielleicht war es der freundliche und erschrockene Gesichtsausdruck ihres Gegenübers oder einfach nur der Schreck, der sie bewegungsunfähig machte. 
„Mein Name ist Lunea. Und ich hatte etwas Durst, also bin ich aufgestanden, um mir ein Glas Wasser zu machen. Allerdings kenne ich mich mit euren neumodischen Menschenkram nicht aus, also habe ich etwas Lärm veranstaltet, völlig unabsichtlich… 
Habe ich dich geweckt? Wenn ja, tut es mir furchtbar leid.“
Die Frau zog eine traurigere Mine. Irgendwie tat sie dem Mädchen leid. Auch wenn sie es wohl bereuen würde, blieb sie stehen und ging auf das Gespräch ein.
„Sie hatten Durst?“, fragte das Mädchen irritiert.
„Aber ja.“
„Nun gut, Lunea, ehm, sie … sehen nicht aus wie ein Mensch…“
Normalerweise könnte sie das zu einer erwachsenen Person nie sagen, doch trotzdem, irgendwie konnte sie nicht anders, und sie hatte ein Gefühl, dass Lunea ihr das nicht böse nehmen würde. Und sie behielt Recht.
„Da hast du natürlich völlig Recht, Yume.“
Einen Moment lang herrschte Stille. Das Mädchen erwartete eine Fortsetzung des Satzes, die sie offensichtlich nicht bekam. 
„Und? Was sind sie denn… Moment!“ Yume durchbrach ihr Unwissend und funkelte die Frau böse an.
„Huch, was ist denn los, Kleines?“, pfiff Lunea fröhlich.
„Woher kennen sie meinen Namen?“ Yume wirkte böse, ihre Züge wurden straffer und angespannter.
„Aber Yume, Schätzchen, ich sehe dich jede Nacht. Du Dummerchen!“
Was? Das konnte unmöglich sein. Yume hatte dieses Wesen noch nie in ihrem Leben gesehen.
„Naja, eigentlich noch gar nicht so lange. Aber länger als du denkst.“
Was sollte das? Fragend blickte Yume der Frau in die Augen. Doch Lunea lächelte nur. Sie schien fest von ihrer Meinung überzeugt zu sein, und war eher verwundert, dass sich das Mädchen nicht erinnern konnte.
„Also meine Kleine, ich muss dann weg und über das hier“, sie deutete auf die Scherben am Boden, die vor der Spüle lagen, "da mach dir mal keine Sorgen.“
Yume konnte nicht glauben, was da gerade passiert war. Sie tritt zögerlich zur Seite, um Lunea durch zu lassen. Diese betätigte den Lichtschalter, sodass man nur noch ihre Umrisse erkennen konnte. Das Mädchen glaubte die Frau noch einmal winken zu sehen, bis sie auf einmal verschwand. Verwirrt lief Yume in das Wohnzimmer und schlug um sich, doch niemand war mehr dort.
„Das kann doch nicht sein!“, rief sie und im nächsten Moment wollte sie sterben. Sie hielt sich die Hände vor den Mund, doch nun war es schon passiert. Sie hatte richtig geschrien, ihr Eltern würde bestimmt wach werden. Was sollte sie ihnen sagen?
„Hallo Papa und Mama, gerade war ein Monster hier, wir haben uns unterhalten, dann hat es sich in das Wohnzimmer gestellt und ist verschwunden!“
Sie hörte sich schon, wie sie sich lächerlich machte und da war es soweit. Sie hörte, wie sich die Schlafzimmertür ihrer Eltern öffnete und schwere Schritte auf sie zukamen.
Sie war unschlüssig, im Bezug auf ihre nächste Aktion. Sollte sie sich verstecken, oder einfach stehen bleiben? Da kam ihr die Idee, sie wollte sich ein Wasser holen. Gerade als sie vor der Küche stand, fielen ihr die Scherben wieder ein. Doch es war schon zu spät, ihr Vater stand bereits am Ende der Treppe und starrte sie an - glaubte Yume zumindest, da es ja dunkel war.
„Na Yume, eine kleine Nachwanderung, oder was?“, höhnte ihr Vater spöttisch, mit einem scharfen Unterton.
„Ich wollte mir nur etwas zu trinken holen…“, hörte sich Yume sagen. Ihre Stimme war weich, zitterte und fühlte sich nicht an wie ihre. Als hätte jemand anderes gesprochen.
„Achso, na dann. Ich mach dir was, geh hoch, ich bring es dir.“
Ihr Vater lief auf die Küche zu und betrat sie. Was, wenn er in die Scherben laufen würde? Doch es war zu spät. Er lief Schnurstraks auf den Kühlschrank zu, wo Lunea das Glas fallengelassen hatte. Jedoch stand ihr Vater genau dort und… Die Scherben waren weg!
„Na los, worauf wartest du?“, fragte er. „Ab ins Bett!“
Verwirrt kratzte sich Yume am Kopf und lief auf die Treppe zu.
Sie wusste nicht, ob das was passiert war ein Traum oder nicht war, aber sie musste schlafen.
Und so fielen ihr langsam die Augen zu.

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