Ein neues Schuljahr
Ich liebe dich… Diese drei magischen Worte, die die Welt um uns herum verändern, in dem Moment in dem wir sie aussprechen. Ich weiß ich werde sie zu dir sagen!
„Tenma, träum nicht so viel!“, riss ihre Schwester sie ungewollt grob aus ihren verträumten Gedanken, welche entfernt weilten; weit entfernt in einer besseren Welt, voller Hoffnung und Liebe, „Wir
kommen sonst zu spät!“
„Ja… ja“, antwortete Tenma vergnügt und machte einen Satz vor, hinüber zu ihrer kleinen Schwester Yakumo, welche perplex auf sie gewartet hatte. Die Hände vor dem Körper zusammengefaltet – ihre
typische, schüchterne Haltung in der Öffentlichkeit – lief Tenmas kleine Schwester den von Kirschbaumblüten rosa gefärbten Waldweg entlang, dicht gefolgt von ihrer ein Jahr älteren Schwester. Beide
mit leicht bläulichen, dunklen Haar und ihrer Schuluniform geziert, durchschritten die Zwei das kleine, aber doch so wundervolle Stück Wald, und überquerten die heute Morgen ungewöhnlich stark
befahrene Hauptstraße. Diese mündete in eine unauffällige Seitengasse, welche die beiden Mädchen auf einfachem Wege zu ihrer Schule geleiten sollte. Von dort aus liefen die beiden – hellbraun-beige
Oberteile und rote Miniröcke – direkt auf den Schulhof der Schule, die sie beide besuchen würden. Tenma, 16 Jahre alt, wird dieses Jahr in die zweite Klasse kommen, während Yakumo, 15 Jahre alt, in
die Erste kommen wird.
‚Da ist er ja‘, schoss es der Sechzehnjährigen durch den Kopf, als sie ihren Schwarm auf dem Hof erblickte. Wie viele Mädchen in ihrem Alter war sie sehr verliebt; von einer Sekunde auf die Nächste
färbte sich ihr Kopf in ein tomatenähnliches Rot und die beiden dünnen, kleinen Zöpfe von denen einer rechts, und einer links, von ihrem Kopf abstand, senkten sich, als würden sie ihre Gefühle
wiedergeben.
„Wäre das nicht toll, wenn ihr Beiden in eine Klasse kommen würdet?“, fragte Yakumo, völlig unbedacht Tenmas Reaktion, welche sie nun erhalten würde. Wie aufgebraust drehte sich die Ältere, dennoch
aber etwas kleinere, der beiden um und sah ihrer jüngeren Schwester in die Augen.
„Natürlich kommen wir in eine Klasse!“, brachte Tenma hervor und ballte die Hand, welche nicht mit dem Tragen ihrer Schultasche beschäftigt war, zu einer Faust zusammen, „Alles ist heute dafür
perfekt: Die Planetenkonstellation ist perfekt, mein Horoskop sagt das, der Teesatz in meinem Tee heute morgen hat auch gestimmt und mit dem richtigen Fuß bin auch aufgestanden!“ Sie schien diese
Fakten nahezu aus sich raus zu schreien, als wollte sie eher sich selbst als Yakumo überzeugen, was ihre jüngere Schwester natürlich bemerkte.
„Na ob das alles reicht…“
„Aber natürlich reicht das!“, gab Tenma von sich und funkelte ihre Schwester spielerisch an, „Ich werde mir das jetzt mal ansehen!“ Schnurstracks lief sie geradeaus in Richtung Eingang, neben dem an
einer großen Tafel die neuen Klassenlisten aufgehängt waren. Es gab dieses Jahr fünf zweite Klassen, a, b, c, d und e. In welche würde sie wohl kommen? Und ich welche würde er kommen?
Angespannt überquerte sie den Rest des Schulhofes stur auf die große Tafel, vor der sich schon viele Schüler und Schülerinnen, tummelten zu, als sie bemerkte, dass sie an ihm vorbei gelaufen ist.
Sofort wurde sie rot und ihr Herz begann stärker zu schlagen. Peinlich berührt drehte sie sich um und überprüfte, ob er etwas gemerkt hatte. Doch unterhielt er sich nur mit einem anderen Jungen, der
ebenfalls wie er seine schwarze Schuluniform, bestehend aus einer Stoffhose und einer Knopfjacke, trug.
„Karasuma-kun…“, wisperte Tenma verträumt und könnte sich just in diesem Moment sofort selbst dafür prügeln.
„Habe ich es wirklich gewagt seinen Namen laut auszusprechen!?“, krisch sie panisch – wenngleich kreischen eigentlich der falsche Ausdruck ist, mit Bedacht blieb sie leise und so unentdeckt – und
drehte sich wieder weg, als sie glaubte, dass einer der beiden Jungs sich langsam in ihre Richtung neigen würde. Sie versuchte Karasuma-kun wieder aus ihren Gedanken zu verbannen, zumindest nur für
ein paar Sekunden, damit sie sich die Klassenlisten ansehen könnte…
„Hallo Tenma!“, ertönte eine helle Stimme, gefolgt von einer weiteren, ähnlichen, aber doch etwas verschiedeneren Stimme. „Wir sind alle in einer Klasse!“ – „Ist das nicht cool?“, hinterfragte einer
Dritte, etwas monotonere die Aussage der beiden anderen Mädchen. Das Trio stand schon hinter ihr, als sich Tenma umdrehte und ihren Freundinnen in die Augen blickte.
„Eri, Mikoto, Akira; wie schön euch zu sehen“, pfiff die Blauhaarige fröhlich, „ich freue mich! Das wird das tollste Jahr aller Zeiten!“ Die drei Mädchen nickten und lächelten Tenma erwartungsvoll
an. Sie waren alle drei wunderschön, Akira, mit ihren kurzen, braunen Haaren, Eri, mit ihrem langen, für eine Japanerin sehr untypischen, blonden Haar, welches rechts und links in zwei sehr langen
Zöpfe überging, die ihr fast bis unter die Brust reichten und Mikoto, mit ebenfalls blauem Haar, allerdings etwas heller als das von Tenma, dafür etwas kürzer geschnitten. Alle drei trugen die die
Schuluniform, genau wie alle anderen Mädchen in Sichtweite.
„Wir gehen uns mal nach ein paar anderen Leuten umsehen, kommst du mit Tenma?“, fragte Eri, das Mädchen mit den blonden Haaren, sie freundlich, doch ihre Freundin lehnte kopfschüttelnd ab. „Tut mir
Leid, ich habe noch etwas zu tun“, war ihre knappe Antwort. Sie freute sich zwar sehr darüber, dass sie mit den dreien in eine Klasse gekommen war, denn sie waren recht gute Freunde und verstanden
sich wirklich super, allerdings wollte sie doch wissen, ob Karasuma-kun auch in ihrer Klasse war… Laut Akira, waren die vier in der zwei C…
„Und wie läuft es, Tenma?“, ertönte eine helle, leise, zerbrechliche Stimme hinter ihr und drang an ihr Ohr. Ihre jüngere Schwester Yakumo hatte sich genährt und wollte nun offenbar wissen, ob ihr
Plan geglückt war.
„Ich weiß noch nicht…“, murmelte Tenma vorsichtig und sah beschämt zu Boden. Warum schämte sie sich überhaupt? Sie musste sich doch für nichts rechtfertigen… Doch, sie hatte noch immer nicht auf die
Klassenliste gesehen; das durfte doch einfach nicht wahr sein.
„Soll ich mal…“, wollte ihre jüngere Schwester ihr ein Angebot machen, doch wurde sie inmitten diesem rau von Tenma unterbrochen.
„Nein“, sagte sie knapp, „das muss ich schon gut selbst sehen, in Ordnung?“
Yakumo nickte und Tenma, die dieser Reaktion schon gar keine Aufmerksamkeit mehr schenkte war verschwunden, ob einfach nur weg oder schon in der Menge an Jugendlichen die sich vor der Tafel mit der
Klassenliste tummelten war Yakumo nicht bewusst, denn sie hatte nicht mal mitbekommen, dass ihre Schwester so schnell fortgelaufen war. ‚Ich hoffe es für sie…‘, dachte die Erstklässlerin mitfühlend
und ging dann auf die Suche nach ihrer besten Freundin – Sarah. Ohne Erfolg, diese schien so früh noch nicht da zu sein, denn nachdem Yakumo den Schulhof nunmehr zum zweiten Mal überquert hatte, war
sie sich sicher, dass Sarah einfach noch nicht hier war. Also überlegte sie es sich anders und ging auf die Suche nach ihrer Schwester, welche sie – wie zu erwarten, einige Meter von den Schülern an
den Klassenlisten entfernt erspähte.
„Und, seid ihr in einer Klasse?“, fragte Yakumo erneut, jetzt schien selbst ihr Interesse geweckt zu sein.
„Ich weiß es nicht“, gestand sich ihre ältere Schwester empört ein und blickte erneut beschämt zu Boden. Was hinderte sie eigentlich daran, nach zu sehen? Das war doch paradox, es gab überhaupt kein
Problem dabei… Ja, genau so war es! Sie würde sich das jetzt ansehen gehen, und …
„Ich werde das jetzt für dich überprüfen“, meine Yakumo und machte entschlossen einen Schritt nach vorn, als sie die Hand ihrer Schwester auf ihrer linken Schulter spürte. Erstaunt drehte sich die
Erstklässlerin um und sah Tenma in die Augen; welche nur nickte und nun endlich einen Blick auf die Klassenlisten warf. C! Da war die Klasse. Nun musste sie nur noch nach seinem Namen Ausschau
halten. Sawachika, Hanai, Nara, Ichijou, Imadori, Tsukamoto – Tenmas Nachname –, Suou und… das war’s, sonst niemand. Oder…
„Hey, das gibt’s doch nicht, muss hier immer so ein Gedrängel sein!?“, fauchte Tenma ihren Vordermann wütend an, welcher kleinlaut einen Schritt zu Seite machte. Karasuma
„Yay!“, platze es aus dem Energiebündel hervor, als sie jedes einzelne Schriftzeichen seines Nachnamens mit ihren leicht gräulichen Augen erfasste. Überrascht ging Yakumo auf sie zu, die im nächsten
Moment sogar ihre Hände als eine Art Schutz vor ihren Bauch halten musste, damit Tenmas Faust sie nicht treffen würde.
„Ich bin mit ihm in einer Klasse!“, verkündete sie ihrer Schwester überglücklich, welche sie mitfühlend beglückwünschte und etwas neben sie deutete, wo ein Junge mit schwarzen Haar, geschnitten zu
einer Topfrisur, und seiner gewohnten, schwarzen Schuluniform stand. Natürlich hatte ihre ältere Schwester verstanden, ging auf ihn zu und begrüßte ihn freundlich.
„Hallo Karasuma-kun, ich wünsche uns schönes, erfolgreiches Schuljahr!“ Sie verbeugte sich und sah dann erwartungsvoll zu ihrem Schwarm auf, welcher jedoch keinen Ton von sich gab. Stattdessen war es
sein Hintermann, ein Junge mit blauem Haar der auf den Nachnamen Nara hörte, der sich meldete: „In derselben Klasse, was?“
„Ganz richtig“, antwortete nun Karasuma, allerdings neigte er dann betrübt den Kopf nach vorne, „Aber da wir übermorgen umziehen, wird das für uns wohl kein langes Jahr.“
„Waaas!?“, beantwortete Tenma seine Aussage mit einem hysterischen Kreischen, doch als sie sich wieder gefasst hatte, waren Nara und Karasuma bereits verschwunden, offenbar machten sie sich schon auf
den Weg in die Klassenräume, wovon Tenma bisher nur träumen konnte. Sollte es wirklich so enden? Karasuma musste jetzt schon weg!? Aber seine Stimme und seine so ausdruckslosen Augen, dieser
unterkühlt, genau das liebte sie ja so an ihm. Seine tiefe, kehlige Stimme hallte noch jetzt in ihrem Kopf wieder, diese schrecklichen Worte, die eine Nachricht der Trauer und Verzweiflung mit sich
brachten. ‚Wieso, Karasuma-kun… Wieso?‘
~
Ich liebe dich… Diese geheimnisvollen, wunderbaren Worte. Sie schaffen jene Magie, die die Welt um uns herum verändert, in dem Augenblick in dem wir diese drei kleinen Worte aussprechen. Ich weiß ich
werde sie zu dir sagen.
„Das nächste Mal wenn ich dich erwische bist du tot!“, krächzte eine tiefe Stimme, welche vom Boden an sein Ohr drang.
„Halt deine Klappe, du Bratwurst!“, maulte der Junge, der über ihm stand – schwarze Lederjacke und eine zerfetze Jeanshose am Körper tragend – und ihm daraufhin nicht zu hart, aber sicherlich
schmerzhaft, seinen Fuß ins Gesicht rammte. Auf dem Kopf, besser gesagt vor den Augen, trug er eine schwarze Sonnenbrille und seine längeren, schwarzen Haare hatte er nach hinten geworfen, wo sie von
einem Reif festgehalten wurden. Seine Mundwinkel waren von einem Bart, sowohl am Kinn als auch über den Lippen, verdeckt und sein Gesichtsausdruck war alles andere als freundlich. Er stieg auf sein
Motorrad und verließ mit einem schnellen Schwung die Seitenstraße, in der er sich offenbar mit dem etwas dickeren Mann, den er eben noch getreten hatte, geprügelt und geschlagen hatte und überquerte
die Hauptstraße, von der er nach ein paar Minuten wieder abbog, in eine kleine Seitengasse, nahe eines zurzeit rosa Waldes, aufgrund der vielen Blütenblätter.
Schon bald war auch er an sein Ziel angelangt, die Yagami High School. Mit breiten Schultern und einem stählernen Gesichtsausdruck überquerte er den Schulhof, auf dem die Schüler und Schülerinnen um
ihn herum fast eine Art Straße bildeten, da so gut wie jeder einen Schritt zurückwich, vor ihm. Kenji Harima war ein ganz harter Junge; ein Schläger wie er im Buche stand. Aus der Schule machte er
sich nicht viel, ihn interessierte es gar nicht wirklich, was hier so passierte. Nein, er war aus einem anderen Grund hier.
Da war sie… Dieses Mädchen, wegen dem er hier war; sie hatte ihn vollkommen aus der Bahn geworfen. Aus einem brutalen Schläger wurde ein Engel, alles nur dank ihr. Er hatte sie gerade wieder
auf dem Schulhof erblickt, als sie ihre wunderschönen, langen, bläulichen Haare auf die andere Seite geworfen hatte und dabei erfreut mit ihren beiden, kleinen Zöpfen gewackelt hat. Wie sie das
machte, war Harima zwar nicht bewusst und öfters wunderte er sich auch darüber, aber ihre Schönheit übertrumpfte seine Gedanken dazu jedes Mal. Ihr zarter Körper betörte ihn fast schon und ihm bot
sich keine andere Gelegenheit als einfach nur stur an ihr vorbei zu laufen und versuchen nicht vom Boden hoch zu gucken. Die Göttin seines Herzens unterhielt sich mit drei anderen Mädchen, die
offenbar auch in ihrer Klasse waren, eine blonde, eine blauhaarige und eine braunhaarige. Die drei waren alle ein Stück größer als Tenma, doch war ihm ihre Größe egal… Harima liebte sie.
‚Tenma mein Liebling…“, dachte er verträumt, ‚du bist also in der zwei C. Also gut…‘
Selbstbewusst ging er auf die Klassenlisten zu, welche dort neben dem Eingang ins Schulgebäude an einer Tafel befestigt waren. Sofort verschwanden sämtliche Schüler die eben noch davor gestanden
hatten. ‚Weicheier‘, war Harimas einziger, stiller Kommentar dazu.
„Also gut, ich werde jetzt zehn Sekunden meine mentalen Kräfte walten lassen, dann werde auch ich in der zwei C sein…“, murmelte er, trotzdem aber gut hörbar, vor sich hin und fasste sich mit seiner
linken Hand an die Schläfen.
10 – ‚Ich komme in die zwei C‘ – 9 – ‚ich komme in die zwei C‘ – 8 – ‚ich komme in die zwei C…‘ – 7 – ‚ich komme in die zw…‘
„Schlecht gelaufen Harima, du kommst in die zwei D!“, ertönte die quietsch fiedele Stimme eines halbstarken Zweitklässlers, wenngleich Harima selbst auch nicht älter war, und schockte den
Motorradfahrer bis ins Blut.
„Was… ich komme in die zwei D!?“, murmelte dieser wütend und sah sich die Klassenliste der D-Klasse an, womit gleichzeitig seine Wut in eine Vielzahl ihres Ursprungs anstieg. „Harry McKency ist ein
Ausländer du Vollpfosten!“, brüllte Harima den Jungen an, der ihn bei seinem Gedankengang gestört hatte, „Kauf dir eine Brille!“ Mit dem letzten Wort holte der Junge aus und schlug seinem Gegner die
Faust ins Gesicht.
„Wag dich, mich nochmal so zu verarschen!“, fauchte er dem Jungen mit den langen, roten Haaren zu und wand sich dann wieder den Klassenlisten zu. Nun ging er eine Liste nach der anderen durch, doch
war das Ergebnis dieser Idee noch erschreckender als alles andere; denn weder bei a, noch bei b, c, d oder e stand sein Name… Harima Kenji fehlte. Er rieb sich die Augen und überflog erneut alle
Namen der verschiedenen Klasen, doch das Ergebnis bleib dasselbe. ‚Was soll denn das jetzt?‘, dachte er sich bestürzt.
„Mein Name fehlt!“, brüllte er lauthals, sodass sich nun endgültig jeder Schüler der in der Umgebung stand, umdrehte; zumal die meisten dieses Spektakel sowieso schon wie gebannt beobachteten. Harima
suchte erneut jede der Listen nach den vertrauten Schriftzeichen seines Namens ab, als ein etwas älterer Mann mit einer Glatze und Harima suchte erneut jede der Listen nach den vertrauten
Schriftzeichen seines Namens ab, als ein etwas älterer Mann mit einer Glatze und einem braunen Anzug auftauchte und den Jungen fragend ansah. Als dieser nur mit einer ebenso verlorenen Miene
antwortete, sagte der Mann, der wohl der Direkt der Yagami High School war: „Hast du es schon vergessen, oder wieso bist du hier, Harima? Du bist doch sitzen geblieben…“
Stille…Weder die Schüler, noch der Rektor trauten sich einen Ton von sich zu geben, oder gar Harima. Er neigte den Kopf nach vorne und ließ seine Schultern erschlaffen. „Ach stimmt“, gab er nur
kleinlaut von sich und schlurfte weg. Postwendend stürmten die Schüler wieder auf die Tafel zu und der Alltag hatte uns wieder.
~
Es gab nicht viele Dinge, die Yakumo hasste, aber eines von diesen wenigen war es, wenn Tenma unglücklich war; sie hatte ihr Schwester sehr lieb und fühlte immer mit ihr.
„Tenma, es ist doch nicht so, dass…“
„Doch, das ist furchtbar!“, unterbrach die Zweitklässlerin ihre jüngere Schwester grob, „Jetzt wo wir in die selbe Klasse gekommen wären muss er die Schule wechseln? Das ist so unfair… Was wollen
seine Eltern überhaupt in Amerika? Was ist denn an Amerika so schön? Was haben die da, was wir hier in Japan nicht haben!?“ Aufgebracht stand sie auf und stellte sich ihrer Schwester gegenüber:
„Obwohl du mit einer Sache recht hast, Schwester: So darf es nicht enden…
Und genau deshalb lass ich mir jetzt was einfallen! Aber erstmal werd‘ ich aufräumen, dass beruhigt die Nerven!“
Ja, Tenma hat aufgeräumt. Aber nicht nur das, nachdem sie auch noch die Wäsche und den Abwasch gemacht hatte, war sie noch niedergeschlagener als zuvor. Als sie schließlich abends, ausgelaugt wie eh
und je, wie eine Leiche, so schlapp war sie, im Bett lag flüsterte sie nur leise mit Tränen in den Augen: „Ich hab‘ mir nichts überlegt…“
‚Es kann doch nicht sein, dass sich unsere Wege trennen, ohne dass er Bescheid weiß, was ihr für ihn empfinde… Karasuma-kun…‘ Noch lange wälzte sich das Mädchen in ihrem Bett herum, die Stirn
runzelnd dachte sie angestrengt darüber nach, was sie nun tun sollte; bis sie letztendlich zu einem Schluss kam.
‚Lieber bereut man etwas, was man getan hat, als etwas, was man nicht getan hat… Es gibt nicht viele Möglichkeiten, vor allem aber nicht viele sinnvolle Möglichkeiten, daher ist das wohl die beste
Option… Ich muss es ihn wissen lassen! Ich schreibe ihm einen Liebesbrief!‘ Dass Tenma da nicht früher drauf gekommen ist wunderte sie selbst stark, doch ließ sie sich jetzt nicht mehr von ihrer
tollen Idee abbringen; es war beschlossen. Tenma Tsukamoto würde ihm, Ohji Karasuma eine Liebeserklärung schriftlich zukommen lassen!
Guter Dinge tastete sich Tenma durch ihr Zimmer und fand sich schließlich an ihrem Schreibtisch wieder, wo sie eine kleine Tischlampe anschaltete und sich Bleistift und Papier schnappte. Eigentlich
war es ganz einfach, alles was sie tun musste, war aufzuschreiben, dass sie in ihn verliebt war. Also, warum zögerte sie noch?
Lieber Karasuma-kun,
Ich wollte dir schon immer mal sagen, schon als Kind bin ich gerne Skifahren gegangen…
‚Was soll denn der Blödsinn!?‘, schoss es ihr durch den Kopf und sie zerriss eilig das Blatt, auf das sie diesen komischen Mist geschrieben hatte. Sie schnappte sich das nächste und versuchte ihren
Kopf frei zu kriegen um einen richtigen Liebesbrief zu schreiben…
Die ganze Nacht über schrieb, zerriss und schrieb sie wieder, wobei ihr Vorgehen schon bald einer Maschine glich dir nur auf diese Dinge programmiert war. Die Sonne erhob sich schon langsam wieder am
Horizont – Tenma war nach wie vor am Schreiben – und selbst als ihr Wecker klingelte brummte sie nur und schrieb weiter…
‚Ich bin einfach zu blöd… Aber… ich muss es ihn doch wissen lassen. Ich… ich hab’s! Ich schreibe jetzt einfach ganz genau auf, was ich fühle, er wird mich schon verstehen!‘, dachte sich die
High-School-Schülerin und schrieb wieder los.
Nachdem Tenma acht Stunden Unterricht überlebt hatte – aus ihrem Kopf stiegen zwar leichte Rauchschwaden, aber das war ihr jetzt egal – positionierte sie sich in einem dunklen Winkel nahe dem
Schließfach ihres Schwarmes, in das sie sie heute Morgen ihre Gefühle und Empfindungen auf Papier gesteckt hatte. Allerdings, und das war das klitzekleine Problem an der Sache, war aus dem
ursprünglich vorausgeplanten Brief dann doch eine mehr oder weniger viel zu lange Schriftrolle geworden. ‚Ob er sie ganz lesen wird?‘, überlegte sich das Mädchen, doch schon nach einigen Sekunden in
denen sie mit ihren Gedanken in den schönsten Vorstellungen weilte, wurde sie zurück in die Realität gerissen. Das nicht allzu laute, aber dennoch gut vernehmbare Klicken einer Spinttür ertönte und
als sie ihren Kopf hinter ihrem Versteck hervor streckte erblickte sie ihn, wie er dort stand und die Schriftrolle auf der in großen Schriftzeichen „an Karasuma“ drauf stand beäugte. Er las sie. Und
wenn das so dort steht, dann ist es so gemeint; Karasuma begann zu lesen und erst als es dämmerte war er am Ende der tausenden von Zeilen angekommen, die ihm die Unbekannte geschrieben hatte. Tenmas
Augen wurden größer und größer, als sie sah, dass er fertig war, doch schrumpften sie sogleich wieder auf kleine Schlitze herab, als sie bemerkte, dass er sie – warum auch immer – erneut durchlas.
Mittlerweile war es schon fast dunkel und ihr Schwarm hatte sein kleines Handy hervorgeholt, dessen Bildschirmschein Licht spenden sollte und die fehlende Sonne ersetzte. Nach einiger Zeit – Tenma
starb bereits tausend und einen Tod – war er endlich (wieder) mit Lesen fertig und ein Lächeln huschte über seine Lippen.
‚Hat es ihm gefallen? Oder nicht? Er lächelt? Also hat’s ihm gefallen? …‘, schoss es ihr in diesem Moment durch den Kopf; doch war dies nur eine Vorbereitung auf die darauffolgende Trauer.
„Sehr schade…“, wisperte Karasuma monoton – Tenma sah ihn verwundert an –, „Kein Absender.“
Das war’s. Alles war aus und vorbei. ‚Ich habe einen Fehler gemacht…‘, wanderte dieser eine, fiese Gedanke durch ihren Kopf, eingepflanzt in ihr Unterbewusstsein. Er wuchs und wuchs und seine Wurzeln
bedeckten all die anderen Samen, welche in ihrem Kopf sprießen wollte. Das Ganze fühlte sich an, als würde sie in ein tiefes, schwarzes Loch fallen, aus dem es kein Entkommen mehr gab. Voller Trauer
und Verzweiflung flehte sie stumm ihrem Schwarm hinterher, welcher den Kopf leicht schüttelnd das Schulgebäude verließ und sich hurtig auf den Heimweg machte – bestimmt warteten seine Eltern schon
lange auf ihn.
Niedergeschlagen; das war das einzige, was ihr momentan einfiel. Sie war so niedergeschlagen, dass Tenma weder etwas aß, noch etwas trank. Als sie von ihrem kleinen Liebesabenteuer, aus dem leider
Gottes dann doch nichts geworden ist, wieder nach Hause kam, ging sie stur schlafen, ganz zur Verwunderung von Yakumo, die sich nicht bewusst war, was ihre große Schwester den Nachmittag über
durchgemacht hatte.
Auch am nächsten Morgen ging es der Zweitklässlerin nicht besser und so schlurfte sie mit hängenden Schultern und halb geschlossenen Augen durch die Flurgänge der Yagami High School, womit sie
allerlei verwunderte Blicke erntete. Aber ihr war alles egal… heute würde Karasuma nicht mehr in ihrer Klasse sitzen und wie immer so verträumt aus dem Fenster schauen, mit dem unterkühlten,
aussagelosen Blick den sie so liebte. Nein, er würde wahrscheinlich gerade im Flugzeug sitzen und sich voller guter Dinge seine neue Zukunft in Amerika ausmalen. Wieder kam Trauer in ihr auf, als sie
nur daran dachte und ein paar kleine Tränen, stiegen dem Mädchen in die Augen. Sie schüttelte den Kopf, als könne sie damit ihre negativen Gefühle abwerfen, wischte sich vorsichtig die Tränen weg und
öffnete dann die Tür zu ihrem Klassenraum über den ein kleines Schild hing, auf dem 2C stand. Sie hatte den Kopf weiterhin nach unten geneigt und seufzte, als sie hochschauen wollte. Doch was sie
dort sah…
Was sie dort sah übertraf ihr Vorstellungsvermögen bei Weitem! Dort hinten in der vorletzten Reihe, außen am Fenster saß ja…
„Waaaaas!? Aber warum ist denn der Karasuma-kun noch hier, ich dachte der fährt für immer nach Amerika?“, war ihr hilfloser, aber dennoch überglücklicher, Ausruf, als ihre drei Freundinnen, Akira,
Eri und Mikoto, sich zu ihr gesellte und ihr die Lage vor Augen führten.
„So, so, er darf also noch ein Jahr bleiben?“, wiederholte Tenma das, was Eri ihr zuvor erklärt hatte nachdenklich. Sie runzelte die Stirn und versuchte zu unterdrücken, was sie gleich erobern würde:
Ein überglückliches, liebevolles Lächeln huschte über ihre Lippen und ihre zwei Zöpfe wechselten ihre Position von ganz weit unten, zu ganz weit oben – sie war so glücklich.
„Genau so ist es, Tenma“, bestätigte nun Akira Eris Aussage und die vier Mädchen liefen auf ihre Plätze zu, wo sie sich setzten und sich weiter unterhielten.
Ihr Klassenraum war – wie jeder andere auch, auf der einen Seite mit zwei Türen, auf der anderen Seite mit vielen Fenstern bestückt, wobei im Innenraum etwa 25 Einzeltische standen, welche in vier
langen Reihen vor dem kleinen, erhöhten Podest standen, welcher als Lehrerpult diente. Hinter diesen verbarg sich eine grünlich schimmernde Tafel voller weißer Schriftzeichen und Formeln, auf die die
meisten Lehrer der Klasse 2C jedoch nicht so viel wert legten – viel wichtiger war es ihnen diese chaotische Klasse erstmal still zu kriegen.
Nach sechs qualvollen Unterrichtsstunden, die Tenma größtenteils dazu nutze ihren Schwarm weiter anzuhimmeln – ihre Freundinnen hatten das natürlich schon lange bemerkt und es schien fast so als
würden sie schon Wetten über den Verbleib der beiden abschließen – und fast auf dem Tisch einzuschlafen. Nach der Schule lief Tenma wieder Erwartens jedoch nicht mit Eri, Mikoto, Akira und ihrer
Schwester, Yakumo, nach Hause, sondern machte noch einen kleinen Abstecher in die Bücherei der Schule. Zwar wusste keines von den vier Mädchen warum genau, aber bei einem waren sie sich alle sicher:
Irgendwas stimmte da nicht. Während die drei Zweitklässlerin die kleine Schwester ihrer Freundin ausquetschten nach Informationen, suchte Tenma in der Bücherei ein ganz bestimmtes Buch. In der
Regalreihe „Allgemeinwissen“ und der Buchstaben „L“ fand sie es dann schließlich.
„Die Liebe von Susi Kagawa – dieses Buch wird mir helfen seine Liebe zu erobern!“, stieß sie inmitten der Bücherei hervor, wofür sie überraschte, teils sogar verachtende, Blicke erntete, diese jedoch
mit einer banalen Ausrede blockte: „Ach ja, Bücher sind echt was tolles, vielleicht sollte ich mal anfangen mir welche auszuleihen!“ Den Kopf vor Scharm zu Boden geneigt – was nicht bedeutete, dass
man nicht ihre knallroten Wangen sah – lief sie möglichst unauffällig auf die Tische am Ende des Raumes zu und setzte sich mit dem Buch mit dem rosa Einband in der Hand auf den nächst besten Stuhl.
Sie schlug die erste Seite auf und begann zu lesen.
Tenma war keine wirkliche Leseratte – was wohl damit zusammenhing, dass sie auch kein wirklicher Freund des Faches „Japanisch“ war –, sodass sie schon nach wenigen Minuten müde wurde und ihr immer
öfter die Augen zu fielen. Sie versuchte sich mit aller Kraft am Einschlafen zu hindern, doch es war ihr Unmöglich, das Vorhersehbare abzuwenden und so dauerte es nicht mehr lange, bis sie leise
schnarchend mit dem Kopf auf Seite elf im Buch schlief. Es vergingen etwa fünfzehn Minuten, bis sie wieder bei Sinnen war und realisiert hatte, was soeben geschehen war. ‚Wie kann ich denn nur über
so einer spannenden und wichtigen Lektüre einschlafen… Also wirklich, das geht echt gar nicht. Mal sehen, was Susis nächster Tipp ist‘, dachte sie ermüdet, gähnte und blätterte dann auf die nächste
Seite um.
„Wer sich selbst und seinen Gegner kennt, dem droht in tausend Kämpfen keine Gefahr“, lies sie mehr oder weniger laut vor – was ein Glück waren dieses Mal kaum Leute um sie herum, diese hingegen
schien es kaum mehr zu interessieren, was dieses kleine, verrückte Mädchen von der man genauso gut denken konnte sie ging in die erste Klasse, da tat.
‚Wie bin ich denn so?‘, überlegte sie sich und ging im Kopf ihre Stärken und Schwächen durch. Sowohl ihre Zöpfe als auch ihre Mundwinkel wurden mit jedem Gedanken etwas weiter runter gezogen, denn
wie sich herausstellte, war sie offenbar in gar nichts wirklich gut. Im Kochen war sie eine Niete, ihre schulische Leistung war schlecht, im Sport könnte man auch eine Puppe dort hinstellen, wo sie
sein sollte und mehr fiel ihr im Moment nicht ein. (Vor allem aber, wollte sie sich nicht noch weiter selbst demütigen…)
‚Nicht verzagen, Tenma… Es ist doch ganz einfach, ich werde einfach Susi fragen!“, schoss es ihr durch den Kopf und ihre Augen schweiften auf den rechten Teil der gewohnten Doppelseite, doch stoppte
sie schon nach dem dritten Schriftzeichen ab und runzelte verwirrt die Stirn… ‚Was bedeutet das denn?‘, fragte sie sich nachdenklich und überlegte, was das Schriftzeichen meinen könnte. ‚Ein sich
schälender Hase!?‘, kam ihr eine Idee, sodass sie sich diese Szene in Gedanken vor Augen führte, jedoch nach wenigen Wimpernschlägen wieder aus ihrem Kopf verbannte… ‚Das ist ja eklig, igitt.‘
„En…entschuldigung“, räusperte sich das Mädchen schüchtern und wand sich wissbegierig an ihren Sitznachbar, welcher ebenfalls tief in ein Buch verfallen war, „könntest du mir helfen… Ich weiß nicht,
was dieses“ – sie deutete auf das sich schälende Häschen – „Schriftzeichen bedeutet.“
„Aber gerne. Das ist ein Dato und steht bildlich für ein flüchtendes Kaninchen“, ertönte eine tiefe, aber fast schon zu monotone, Stimme, die ihr freundlich die Antwort lieferte.
„Oh, danke“, meinte Tenma und sah von ihrem Buch zu dem Jungen hoch, der ihr geholfen hatte, als sie mit einem Mal ein riesiger Schock durchfuhr. Wie eine Marionette, gequält von einem bösen
Puppenspieler, drehte sie ihren Kopf von ihm weg und flüsterte sich selbst bedrohliche Worte zu. „Ich habe ausversehen Karasuma-kun gefragt…“, murmelte sie steif.
„Wo ist denn der auf einmal hergekommen!?“, krisch sie laut, schnappte sich ihr Buch rannte panisch aus der Leseecke heraus; versteckte sich daraufhin zwischen den zwei nächstbesten Bücherregalen.
‚Oh mein Gott, das gibt’s doch gar nicht… Der hält mich jetzt bestimmt für total dämlich, ich bin aber auch ne Nummer, wie kann ich denn einfach mit Karasuma-kun sprechen, und dann auch noch so eine
idiotische Frage, bei Gott… Aber… Es war auch toll mal mit ihm zu reden‘, gestand sich Tenma in Gedanken ein und wurde schon wieder ganz rot. Wie sie so war? Nun, Tenma war schwer verliebt… Verliebt
in Ohji Karasuma.
~
„Du Nara, was macht denn Harima da auf deinem Platz? Ich dachte der wäre sitzengeblieben?“
„Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht“, stammelte der angesprochene Junge ängstlich und sah zu seinem Platz herüber, auf dem der Schläger saß. Er hatte es sich auf dem Stuhl bequem gemacht und schien
nahezu in alle Richtungen böse Gedankenwellen abzuschicken…
„Vielleicht hat er ja bei den Lehrern so viel gebettelt, dass sie ihn doch noch versetzt haben…“, überlegte ein weitere Junge, mit einer Kamera um den Hals, laut.
‚Ich bin in einer Klasse mit ihr… Tenma, mein Liebling!‘
Nachdem der Unterricht vorbei war – Harima hatte sich nicht auch nur ein Mal beteiligt, stattdessen hatte er nur verliebte Blicke zu seiner Angebeteten geworfen – lief dieser zu seinem Spint und
suchte sein Handy, als er dort einen Brief fand.
„Eine Herausforderung zum Duell? Was soll denn der Mist jetzt!? Welche Bratwurst will sich schon wieder mit mir anlegen, hä!?“, stöhnte Harima aufgebracht, „Und wer schreibt heute überhaupt noch
Brie…“
‚Moment! Das ist es!‘, schoss es dem Zweitklässler durch den Kopf, ‚So kann ich ihr meine Liebe gestehen! Mit einem Liebesbrief!‘
„Ja!“, rief Harima glücklich und zeriss dabei die Herausforderung des Jungen, der ihn heute um vier Uhr hinter der Turnhalle treffen wollte.
In der großen Pause – zwischen der sechsten und der siebten Stunde – fand sich Harima, seltsamerweise, in der Bücherei wieder, aber nicht um ein Buch zu lesen, so weit kommt’s noch, oder noch schnell
die Hausaufgaben für nächste Stunde in das Heft zu schmieren; nein. Er schrieb einen Brief. An Tenma Tsukamoto. ‚Ich erwarte dich nach der Schule um vier hinter der Turnhalle‘ … Das war der letzte
Satz des Briefchens gewesen, den er mit äußerster Präzession in ihren Spint gefeuert hatte.
Um Punkt vier war sie also da. Schon vor einigen Minuten hatte sich Harima in einem toten Winkel hinter einer Mauer der Turnhalle versteckt und seine Angebetete erwartet, welche soeben den Platz
betreten hatte. Auch er wollte nun rausgehen und ihr alles erklären, es bewahrheiten – den Rest würde dann schon das Schicksal übernehmen, doch als er dann einen Schritt nach vorne macht erblickte er
eine weitere Person, die ihm bisher aufgrund des toten Winkels gar nicht aufgefallen war. Der Junge war ein wahrer Schrank, mindestens doppelt, wenn nicht so gar drei Mal, so breit wie er und auch
locker eins, zwei Köpfe größer.
‚Wer ist denn das nochmal…?‘, fragte sich Harima und durchsuchte sein Gedächtnis nach der Antwort auf diese Frage, bis es ihm wieder einfiel, ‚Ach ja, das ist ja der Typ der mich herausgefordert hat…
Wie war doch gleich sein Name, Tennouji oder so.‘
Dieser Junge ballte schon die Fäuste und knackste mit den Fingern, in Gedanken haute er Harima wohl gerade gehörig eins um die Ohren. Seine Mundwinkel veränderten sich zu einem hämischen Grinsen, bis
er auf einmal das Mädchen bemerkte, das da nur wenige Meter von ihm entfernt stand und ebenfalls auf jemanden zu warten schien.
‚Scheiße, der wollte mich ja auch um vier hier treffen, ich sollte mir echt die Dinge besser merken… Nur kann ich jetzt nicht aus und ihm eine übers Maul ziehen, weil Tenma sonst denkt… Tenma sonst
denkt ich bin aggressiv!‘, schoss es ihm wie ein Blitz durch den Kopf und er griff sich verzweifelt an die Sonnenbrille, die er nach wie vor zu jeder Tageszeit und jeder Witterung – ob Sonne, wo sie
sich durchaus bezahlt macht, oder Regen, wo sie eher weniger Sinn hatte – trug.
‚Aber… was macht der denn jetzt!?‘, fragte sich Harima, als er sah, wie Tennouji auf… auf Tenma zulief, ‚Wag dich sie anzusprechen, du Widerlicher!‘ Doch es war schon zu spät, es war bereits
geschehen und so konnte der Schläger nur stumm dem Gespräch der beiden lauschen, wenngleich er vor Wut geradezu überkochte. Wie konnte dieser Mistkerl es nur wagen, seine Angebetete anzusprechen…
Dafür würde es Prügel geben, aber gewaltig!
„Oh Hallo, was machst du denn hier?“, fragte der große Junge freundlich, mit einer gespielt hohen, netten Stimme, „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, ich tu dir nichts.“
„Ich habe eine Verabredung?“, meinte Tenma trotzig, sah auf die Uhr und guckte dann wieder weg.
‚Sie wartet schon auf mich…‘, dachte Harima zähneknirschend.
„Och was ist das? Ein Briefchen!“
„Ja, ein Briefchen“, antwortete Tenma und verstärkte ihren Griff an dem Brief, den ihr der Unbekannte geschrieben hatte.
„Darf ich mal sehen?“, meinte Tennouji selbstgefällig und ohne ein Antwort abzuwarten, nahm er sich den Brief einfach, was von Tenma nur mit einem leisen, verängstigten „Hey!“ kommentiert
wurde.
‚Was macht der Penner denn jetzt mit meinem Brief!?‘, fragte sich Harima noch wütender als zuvor und ballte die Hände zu Fäusten zusammen. Ein kochendes Feuer durchdrang seinen Körper, ein Feuer der
Wut und gleichzeitig der Verzweiflung… Was hatte er sich nur dabei gedacht?
„Das ist ja wirklich zum Schießen!“, rief der große Junge scherzhaft aus, als er den Brief geöffnet hatte und die ersten Schriftzeichen anvisiert hatte.
‚Du verdammtes Tier, wag es nicht meinen Brief zu lesen!‘, kochten seine Gedanken in diesem Moment über, doch konnte er trotzdem nicht da raus, sonst würde Tenma ihn sehen können, wie er jemanden
zusammenschlug. Er konnte jetzt nichts anderes tun, als zu ertragen, was dieser Mistkerl jetzt mit seinem Brief machen würde.
„Ich möchte den Eltern dieses wundervollen Mädchens danken! Danke, dass sie sich getroffen haben. Und danke, dass sie Tenma gemacht haben. Danke, dass sie so ein wunderschönes Mädchen geworden
ist!“
Von einem Wimpernschlag auf den nächsten färbte sich Harimas Kopf tomatenrot und sein Schamgefühl wuchs und wuchs, bis ins Unermessliche.
„Die Haare an ihr, sind ihnen besonders gut gelungen!“, lachte Tennouji gnadenlos weiter, er beachtete das Mädchen schon gar nicht mehr, dass seinen Ärmel zog und den Brief wieder haben wollte – er
überragte sie mit gut drei Köpfen, „Das ist ja geil, will der Typ Komiker werden, oder was!? Schade, dass kein Name dabei steht, den würde ich zu gerne mal sehen.“
„Also gut Tennouji, jetzt reichts!“, fauchte Harima wütend, „Ich gehe jetzt da raus und dann bringe ich dich um!“
„Aber das ist doch wunderschön“, unterbrach ihn in seiner Kamfansage, die offenbar niemand der Anwesenden vernommen hatte, die Stimme seiner Angebeteten, Tenma, „Ich weiß ja nicht so viel von diesen
Liebesdingen und so, aber dieser Brief ist doch toll, ich glaube dass die Gefühle echt sind, das fühlt man nahezu.“
Tränen schossen ihm in die Augen, er versuchte dieses ihm fast gänzlich fremde Gefühl zu unterdrücken, doch es gelang ihm nicht. ‚Ich bin der glücklichste Mann dieser Welt!‘
„Ich gebe es offen zu…“, gestand Tennouji auf einmal, „Ich habe den Brief geschrieben“ – er nahm ihre Hand in die seinen – „ich liebe dich!“
„Waaas!?“, entfuhr es Harima so laut, und noch dazu wutentbrannt, sodass es wahrscheinlich sogar noch die Leute in der Turnhalle vernommen haben mochten, „Wer ist denn jetzt hier der
Komiker!?“ Ein letztes Mal schlug der Junge mit voller Kraft gegen die Wand der Turnhalle – das hatte er im Verlaufe von Tenmas und Tennoujis Gespräch bei Gott schon oft genug gemacht – sodass nun
ein Stück Stein abfiel: Ihm direkt auf den Kopf. Er brach unter der Last des Steines zusammen, sein Schädel dröhnte doch waren seine letzten Gedanken – wer hätte es gedacht? – bei ihr… Tenma.
„Tut mir Leid, aber ich bin schon in einen Jungen verliebt“, meinte Tenma, verbeugte sich vor Tennouji und tänzelte dann leichtfüßig davon. Harima, der sich mittlerweile von dem Steinschlag erholt
hatte, schritt hinter der Turnhalle auf den sandigen Platz dahinter hervor, wo jetzt nur noch der große, dicke Junge stand. Das Knirschen des Untergrunds verriet ihn und Tennouji drehte sie um. Er
hatte Tränen in den Augen und guckte ganz betroffen. Harima ging zu ihm und legte ihm behutsam seine Hand auf den Rücken. Er tätschelte ihm diesen kurz, bis der Junge ihn schluchzend unterbrach: „Ach
Harimaaa!“
„Ach komm schon…“, meinte Harima mitfühlend und sah Tennouji freundlich an. Dieser musterte ihn bestürzt und fragend zugleich – warum, war dem Schläger deutlich bewusst und er machte sofort wahr, was
er geplant hatte.
„Hättest du wohl gerne!?“, brüllte Harima und schlug ihm eiskalt seine Faust ins Gesicht, sodass der große Junge hart getroffen umfiel und auf dem Boden aufkam. (Es schien ein Erdbeben von
unbekannten Ausmaß zu sein, als sein schwerer Körper den Boden berührte)
„Du verdammte Bratwurst; du Teebeutel; du Vollpfosten!“, beschimpfte ihn der Junge mit der Sonnenbrille, während er rachenehmend auf seinem Kopf herumtrat, „Du lachst über meinen Brief, hm? Warum
lachst du denn jetzt nicht mehr, du verdammtes Tier!?“
~
Traurig lief Tenma über eine Brücke, die als Überquerungsmöglichkeit für die große Hauptstraße mitten durch die Stadt diente. Gedankenverloren runzelte sie die Stirn, ihre Überlegungen kreisten
natürlich nur um ihn – Ohji Karasuma.
„Ich habs!“, platze es aus Tenma heraus, als sie kurz stehen blieb und einen Schmetterling beobachtete, der langsam hinab zur Straße glitt. Während sie diesem folgte, reanimierte sie ihren Gedanken
von eben wieder: ‚Wenn ich mit Karasuma-kun auch außerhalb der Schule Zeit verbringen könnte, würde ich ihm sicherlich näher kommen.‘
Interessanterweise war sie in diesem Moment nicht die einzige, die diesen Gedanken hegte. Unter ihr, auf der Hauptstraße saß ein stämmiger Junge mit Lederjacke und eine dunklen Sonnenbrille auf
seinem Motorrad und hatte zufällig genau dieselbe Idee wie seine Angebetete.
‚Oh, das ist ja Karasuma-kun!‘, schoss es Tenma in den Kopf, als sie ihren Schwarm auf dem Fahrrad erblickte. Er fuhr auf dem Bürgersteig auf der rechten Seite der Straße in die Richtung weg von der
Brücke und da kam ihr eine grandiose Idee!
Aber nicht nur Tenma hatte dieses kleine, eigentlich so unwichtige, Spektakel mit angesehen. Nein, auch Harima, der momentan vor der roten Ampel wartete hatte diese Idee. ‚Mit Tenma morgens zur
Schule radeln!‘
‚Mit Karasuma-kun morgens zur Schule radeln!‘
Es war ein schöner Morgen, die Vögel zwitscherten und alles schein friedlich zu sein. Zwei schöne Mädchen zierten die Straßen mit ihrem Aussehen; sie schienen sich angestrengt über etwas zu
unterhalten. Aus einer Seitengasse kam ein drittes, mindestens genauso hübsches Mädchen, hervorgetreten und grüßte die Beiden. Die drei liefen zusammen weiter und redeten erregt über etwas, für das
die Öffentlichkeit kein Ohr offen haben durfte.
„Tenma will jetzt jeden Morgen mit dem Rad zur Schule fahren“, sagte eine der dreien leise und sah die anderen Beiden erwartungsvoll an.
„Ach wirklich?“, unterstellte nur eine der Zwei diese Aussage und blickte skeptisch in die Runde.
„Bestimmt wegen ihm“, meinte die Dritte und gemeinsam liefen sie schulterzuckend weiter.
‚Ja, das ist ja so cool‘, dachte sich das Mädchen, das heute Morgen nicht wie gewohnt mit ihren Freundinnen und ihrer Schwester zur Schule laufen würde, sondern mit dem Fahrrad fahren würde. Zusammen
mit Karasuma-kun.
‚Da ist er ja schon! Einfach cool bleiben…‘, redete sich Tenma ins Gewissen und hob schließlich grüßend die Hand.
„Hallo Karasuma-kun, guten Morgen!“, rief sie, doch da war er schon an ihr vorbei, „Was hat der denn für ein Tempo drauf, der ist ja schneller als der Wind… Hey, warte auf mich!“ Sie rief noch diese
letzten Worte, schob ihr Fahrrad dann auf die rechte Seite der recht unbefahrenen Straße, wo die Fahrradspur nunmal war, und düste ihm hinterher.
Nicht weit von dort entfernt wartete eine weitere Person auf jemanden, mit dem er heute zur Schule radeln wollte. Harima hatte sein Fahrrad am Straßenrand geparkt, hatte sich etwas entspannter darauf
gesetzt und wartete nun schon ganz gespannt auf seine Angebetete. Immer wieder huschte ihm ein vergnügtes Lächeln über die Lippen, er schien wirklich überzeugt von seiner Idee zu sein… Sie war aber
auch gut. Ein Junge kam an ihm vorbei geradelt, doch das kümmerte ihn im Moment kein bisschen, er hatte nur Augen für Tenma. Und da war sie auch schon!
„Hey Tenma, das ist ja toll, dass wir uns hie…“ Weg war sie!
„Warte, warte, warte, was zum Teufel soll denn das jetzt!?“, rief Harima enttäuscht. „Die geht ja ab wie Kenzos Katze! Aber das zieht sie nicht durch, das schafft sie nicht… Das kann sie nicht
durchhalten! Das hält sie einfach nicht duuurch!!“, brüllte Harima, schwang sich auf sein Fahrrad und trat ordentlich in die Pedale, seinem Liebling hinterher.
Die drei Teenager waren schnell. Karasuma wollte in die Schule, Tenma zu Karasuma, und Harima zu Tenma. So war es zwar unglaublich, aber wenn man es sich recht überlegte gar nicht allzu überraschend,
dass die drei mittlerweile die Landstraße erreicht hatten und diese sogar schneller passierten als die Bahn, die neben dieser herzog. Geschockt starrten die Passagiere der Fahrt auf die drei
Fahrräder, mehr konnten sie gar nicht wirklich erkennen, so schnell waren sie. In einem Tunnel überholten die Drei sogar ein Auto und von dort aus fuhren sie einen recht steinigen und vor allem sehr
steilen Weg hinauf, der sie mitten in einen Wald führte. Während Karasuma die Richtung und das Tempo vorgab, presste Harima von hinten mit und war seiner Angebeteten bald ganz dicht auf den Fersen;
was allerdings nicht heißen soll, dass sie ihn dadurch beachten würde. Nein, sie hatte ihn noch gar nicht wahrgenommen, da sie scheinbar nur Augen hatte, für das was vor ihr war, das, was Harima von
hier nicht sehen konnte.
Das Resultat dieser Tour konnte sich wahrhaftig nicht wirklich sehen lassen. Harima und Tenma waren schon nach wenigen Minuten Unterricht der ersten Stunde eingeschlafen und ihre Freundinnen konnten
vergnügt beobachten wie sie wohl eine wichtige Chance im Hinblick auf Karasuma vertat. Als sie nämlich im Schlaf mit ihrem Arm gegen ihren Radiergummi gestoßen war, fiel dieser runter. Karasuma, der
hinter ihr saß, hob ihn auf und sprach sie an, doch war sie viel zu tief im Schlaf, als dass sie dadurch wach werden würde.
Eri, Akira und Mikoto konnten darüber nur kichern.
„Ein kleiner Vorausblick wie es mit den Beiden weitergehen wird!“, pfiff Eri amüsiert und lehnte sich entspannt zurück.
„Das wird nicht einfach, da hast du Recht, Eri“, bestätigte Mikoto ihre Freundin und Akira nickte zustimmend.
Die drei Mädchen mussten jedoch schnell aufhören zu reden und setztne sich stattdessen gerade auf ihre Plätze, noch dazu stillschweigend, als der Klassenlehrer Tami-sensei den Raum betrat. Er legte
seine Tasche ab und nuschelte ein schwaches „guten Morgen“. Die ganze Klasse – mit Ausnahme von Tenma und Harima – antworteten ihm im Chor.
„Bevor wir heute mit dem Unterricht beginnen, habe ich noch eine wichtige Information für euch, liebe Schüler“, begann Tami-sensei zu reden. Augenblicklich legte sich verwirrtes Gemurmel über die
Klasse; der Lehrer brauchte einen Moment und alle wieder ruhig zu kriegen.
„Morgen findet nämlich die jährliche ärztliche Untersuchung statt!“, meinte er knapp. Womit er nicht gerechnet hatte, war die Antwort seiner Schüler. Panik und Hysterie schienen auszubrechen und es
gab nichts, was die Jungs und Mädchen aufhalten konnte.
„Waas!?“, war die Antwort aller Mädchen – hier zeigte sich vor allem Hysterie. Die Jungs hingegen schienen das ganze etwas lockerer zu nehmen. Sie schienen sich eher zu freuen. (Wahrscheinlich hatten
sie schon schweinische Gedanken in ihren Köpfen, inwiefern diese Untersuchung stattfinden würde) Tenma, die mittlerweile wieder aufgewacht war – aufgrund des Geschreis der Klasse –, hatte sich auch
etwas vorgenommen. Zwar etwas schlaftrunken, aber dennoch halbwegs bei der Sache, überlegte sich Tenma schon, wie sie sich die Untersuchung zu Nutzen machen könnte. Trotz ihrer Angst vor der
Untersuchung – bestimmt hatte sie zugenommen… - freute sie sich auch schon.
‚Ich werde alles über ihn erfahren!‘, nahm sich Tenma zielstrebig vor, ‚Alles!‘